Die Erfordernisse der Konkurrenz auf dem Weltmarkt zwangen den Faschismus, die italienische Staatsgewalt zu stärken. Ein demokratisches Italien wäre zwar vor derselben Notwendigkeit gestanden, hätte aber andere Methoden angewandt und aus anderen Motiven gehandelt. All das erklärt freilich, warum die Verherrlichung des Staates eine so zentrale Stellung in der faschistischen Ideologie einnimmt.
Im Gegensatz zu Italien war die deutsche Staatsmaschinerie niemals ernsthaft in Gefahr, nicht einmal in den Revolutionstagen von 1918 und 1919. Die Bürokratie arbeitete nach wie vor unter ihren eigenen Häuptern, wenn auch scheinbar auf Anweisung der Arbeiter- und Soldatenräte. Die im Reich und in den Ländern gebildeten neuen demokratischen Regierungen störten das alte Personal wenig, und die von ihnen unternommenen Schritte, den alten Beamtenapparat durch neue, demokratische Beamte zu ersetzen, erfolgten langsam und zaudernd. Wo Arbeiterregierungen, wie in Thüringen und Sachsen, den Demokratisierungsprozeß der Verwaltung beschleunigten, schritt das Reich ein und setzte die Regierungen ab. Die Verfassung von 1919 garantierte den Beamten schließlich ihren Status und ihre individuellen Rechte. Die folgende Periode des Staatsinterventionismus bot der Staatsbürokratie neue Betätigungsmöglichkeiten, und in dem Maße, wie die parlamentarische Demokratie zerfiel, verlagerte sich die staatliche Macht Schritt für Schritt auf die Ministerialbüros und die Armee.
Die Nationalsozialisten standen somit einer Anhäufung staatlicher, bei einer Bürokratie mit hoher Qualifikation und langjähriger Erfahrung zentralisierten Macht gegenüber. Ihr Versuch, neben dem bürokratischen Staatsapparat einen konkurrierenden und sämtliche Staatsaktivitäten umfassenden Parteiapparat aufzubauen, führte zu nichts. Zunächst hatte die Partei ein eigenes Außenministerium (Alfred Rosenberg), ein Justizministerium (Hans Frank), ein Arbeitsministerium (Hierl) und ein Kriegsministerium (Röhm). Hitler selbst setzte diesen Versuchen am 30. Juni 1934 ein Ende.
7. Die rationale Bürokratie
Die Lehre von der Oberhoheit des Staates mußte in Deutschland verworfen werden, weil die Ansprüche der Partei mit denen des Staates konfligierten. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätte nichts Hitler daran hindern können, an der Theorie des totalitären Staates festzuhalten. Heute sind die staatsverherrlichenden Lehren, vor allem der Hegelianismus, über Bord geworfen worden.
Vielleicht trifft es zu, daß Hegels Verherrlichung des Staates – wie Hobhouse nachzuweisen versuchte – der für den preußischen Militarismus und den Ersten Weltkrieg am meisten verantwortliche ideologische Faktor war. 45Aber man kann Hegel nicht für die politische Theorie des Nationalsozialismus verantwortlich machen. Eine ganze Reihe von Hegelianern ist nach wie vor in der nationalsozialistischen Bewegung aktiv; einige von ihnen versuchen sogar, Hegels Theorie der neuen nationalsozialistischen Ideologie anzupassen. 46Aber ihre Bemühungen sind lächerlich; denn niemand kann bezweifeln, daß Hegels Staatsidee mit dem deutschen Rassenmythos grundsätzlich unvereinbar ist. Hegel schrieb dem Staat die »Verwirklichung der Vernunft« zu, und verglichen mit den Theorien von Haller und den angeblich liberalen Lehren der Burschenschaften (den von dem Philosophen Fries angeführten Studentenverbänden) war seine politische Theorie fortschrittlich. Hegel verachtete sie beide, denn Haller repräsentierte einen reaktionären politischen Vorstoß, die politische Macht der rückschrittlichsten Gesellschaftsschichten zu rechtfertigen, während die »liberale« Doktrin der Burschenschaften – wie selbst Treitschke erkannte 47– den Keim des Rassismus, Antisemitismus und teutonischer Selbstüberhebung in sich barg. Hegels Theorie ist rational; sie hält zudem am freien Individuum fest. Sein Staat verkörpert sich in einer Bürokratie, die die bürgerlichen Freiheiten garantiert, weil sie auf der Grundlage rationaler und berechenbarer Normen tätig wird. 48Diese Betonung des rationalen Verfahrens der Bürokratie, Hegel zufolge die Voraussetzung einer guten Regierung, macht seine Lehre für den nationalsozialistischen »Dynamismus« unannehmbar.
Einige wenige Worte sind nötig, um den Begriff der »rationalen« Bürokratie, wie Hegel ihn verstand, und sein Verhältnis zu einem demokratischen System zu klären. Heute werden Übergriffe der Bürokratie in fast allen Ländern als eine Bedrohung der Freiheit des Individuums verdammt. 49Und wenn wir Demokratie ausschließlich als ein Organisationsmodell definieren, nach dem die politische Macht unter frei gewählten Volksvertretern aufgeteilt wird, so läßt sich ohne weiteres feststellen, daß eine Bürokratie, die dauerhaft, hierarchisch gegliedert und einer eigenmächtigen Befehlsgewalt unterworfen ist, als Widerspruch zur Demokratie erscheinen muß. Demokratie ist aber nicht ein bloßes Organisationsmodell; sie ist auch ein Wertsystem, und die von ihr verfolgten Ziele können sich verändern. Der Konkurrenzkapitalismus zielte einzig und allein darauf ab, die Freiheit der Gesellschaft vor staatlicher Einmischung zu schützen. In der Ära des Kollektivismus, der den Konkurrenzkapitalismus als Resultat tiefgreifender ökonomischer Wandlungen ablöste, und in dem die Massen die Berücksichtigung ihrer materiellen Lage verlangen, erweist sich das durch die liberale Demokratie repräsentierte Wertsystem als unangemessen. Arbeitslosen-, Kranken- und Invalidenversicherung, Wohnungsbauprogramme werden zur Notwendigkeit und müssen als unverzichtbarer Teil der Demokratie akzeptiert werden. Darüber hinaus muß eine gewisse Kontrolle des ökonomischen Handelns eingeführt werden. Offensichtlich bieten sich zur Verwirklichung dieser neuen Ziele zwei Methoden an: Eine, als pluralistische Lösung, enthält die Selbstverwaltung durch die privaten interessierten Parteien; die andere, eine monistische Lösung, bedeutet bürokratische Bevormundung. Die Wahl zwischen diesen beiden Methoden fällt nicht leicht, um so weniger, als das Maximum an bürokratischer Macht nur dann erreicht wird, wenn staatliche und private Bürokratien einander durchdringen. Die Bevorzugung der Selbstverwaltung folgt nicht unbedingt aus dem Wesen der Demokratie. Das wäre der Fall und in der Tat die Ideallösung, wenn die privaten Bürokratien in allen wichtigen Punkten eine Einigung erzielen könnten, ohne die Interessen der Gesellschaft insgesamt zu verletzen. Aber diese Erwartung ist utopisch. Wann immer private Gruppen zu einer Einigung kamen, geschah es auf Kosten der Gesamtgesellschaft; gewöhnlich hatte der Verbraucher zu leiden, und ein Eingreifen der Regierung erwies sich als unabdingbar. Unsere Gesellschaft ist nicht harmonisch, sie ist antagonistisch, und der Staat wird immer die ultima ratio sein. In Deutschland zwang das pluralistische System privater Verwaltung – wie ich zu zeigen versuchte – die Regierung früher oder später zur Intervention; als Folge davon wuchs die Macht der Staatsbürokratie. Hinzu kommt die Tendenz der betroffenen Parteien wie Gewerkschaften, Kartelle, Unternehmerverbände und politische Gruppen, selbst bürokratische Einrichtungen zu werden 50, deren Zweck entweder darin besteht, ihre Organisationen funktionsfähig oder sich selbst an der Spitze zu halten. Die spontanen Wünsche der breiten Masse werden dabei unweigerlich geopfert.
Konfrontiert mit der Wahl zwischen zwei Arten von Bürokratie, mag die Bürgerschaft die öffentliche der privaten Bürokratie vorziehen; denn private Bürokratien verfolgen egoistische Gruppeninteressen, während öffentliche Bürokratien, selbst wenn sie von Klasseninteressen beherrscht werden, dem Allgemeinwohl eher zuneigen. Das ist darin begründet, daß Staatsbürokratien festgesetzten und nachprüfbaren Regeln gehorchen, während private Bürokratien geheime Anweisungen befolgen. Der Staatsdiener wird nach einem Laufbahnsystem ausgewählt, das auf dem Prinzip der Chancengleichheit für jeden Bewerber beruht, wenngleich dieses Prinzip in der Praxis häufig pervertiert wird. Private Bürokratien kooptieren ihre Mitglieder, und dieser Vorgang entzieht sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit.
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