Und dann wartet man. Man wartet und wiederholt immer wieder, was man mit dem Therapeuten besprochen hat: Dass es für den Mann auch nicht einfach ist. Dass auch er sich nach dem Zusammenbruch ein neues Leben aufbauen musste. Dass er deshalb vielleicht nicht jeden Sonntag Zeit hat. Dass man es ihm hoch anrechnen muss, dass er einen nie fallen ließ, sich trotz allem noch immer um einen kümmert, dass die Scheidung nur eine juristische Sache war, dass er sogar jetzt, wo er eine Neue hat, noch immer …
Man wartet. Man bemüht sich, nicht auf die Uhr zu schauen. Strukturen sind wichtig. Das hat Dr. Rettner gesagt. Man kann und darf nichts anderes tun als warten, denn der Sonntag ist der Tag, an dem der Mann kommt. Um drei Uhr. Um seinen Lieblingskuchen zu essen.
Man darf nicht vergessen, die Kleidung für Montag herzurichten.
Ich, Ratte
Ich bin eine Ratte. Niemand mag Ratten. Ratten sind Schädlinge. Sie übertragen Krankheiten, müssen daher ausgerottet werden. Die Krankheit, die ich übertrage, ist die Moral. Ich bemühe mich redlich, dass man mir meine Krankheit nicht ansieht, versuche, sie zu unterdrücken.
Doch es ist mir wieder nicht gelungen. Ich hätte meinen Mund halten sollen, so wie es alle anderen machen. Manche von ihnen sehen durchaus, was falsch läuft, aber sie sind eben still, schauen auf sich, nicht auf das große Ganze. Das haben sie mir gesagt. Zum Abschied. Als Rat mit auf den Weg gegeben: »Du musst nicht immer die Welt retten.« Aber ich bin eben eine Ratte.
Und Ratten haben auch Vorteile. Sie sind eklig, besonders der lange, nackte Schwanz. Man braucht kein Mitleid mit ihnen zu haben. Man kann alles Schlechte, Böse, Unerwünschte auf sie projizieren, sie vertreiben und dann guten Gewissens weiterleben in dem Gefühl, der Gemeinschaft einen Dienst erwiesen zu haben.
Ja, es stimmt, ich war bei den Verhandlungen um die Personalkürzungen, die im nächsten Jahr notwendig sein werden, nicht sehr geschickt. Wenn ich nur still gewesen wäre, im entscheidenden Moment den Mund gehalten hätte … Mein Posten stand ja gar nicht zur Diskussion. Es sollte noch nicht einmal die endgültige Entscheidung fallen, war nur einmal ein erstes Sondieren. Ich hätte mir den Vorschlag des Geschäftsführers, meine Sozialarbeiterin einzusparen, für sie bei anderen Organisationen ein gutes Wort einzulegen, nur ruhig anhören müssen, nur versuchen müssen, dem Argument, dass der neue Job für sie sogar eine Verbesserung sei wegen der kürzeren Wegzeit und eines schöneren Büros, etwas abzugewinnen. Ich hätte dafür ja auch die Sozialarbeiterin einer anderen Abteilung, die verkleinert werden muss, bekommen. Ich hätte nur verbindlich zu lächeln brauchen, etwas Gras über die Sache wachsen lassen und strategisch überlegen, wie ich weiter vorgehen würde, um diese Zumutung abzuwenden: Fakten dokumentieren, warum gerade meine Sozialarbeiterin unersetzlich für uns sei, Informationen sammeln, die die andere in einem schlechten Licht erscheinen ließen. Aber nein, nichts davon habe ich unternommen. Stattdessen begann ich, innerlich zu kochen. Offenbar war mir meine Aufregung auch anzusehen, denn der Geschäftsführer sprach mich ohne Umschweife darauf an, was ich denn von der vorgeschlagenen Lösung hielte. Und ich habe natürlich nicht erst einmal ausweichend geantwortet, um Zeit zu gewinnen. Nein, es ist einfach aus mir herausgesprudelt: dass meine Sozialarbeiterin immerhin schon achtundvierzig sei, also sicher nicht so leicht eine neue Stelle finde, wo sie doch gerade erst privat eine schwere Krise überstanden habe, was die Arbeitsleistung in keiner Weise geschmälert habe, nur brauche sie jetzt eine gewisse Zeit der Stabilität und nicht schon wieder einen Schlag, dass sie mit ihrem Migrationshintergrund eine wichtige neue Sichtweise in unsere Arbeit einbringe. Wahrscheinlich war es auch nicht gescheit, mit dem Leitbild zu argumentieren, in dem steht, dass ein respektvoller Umgang miteinander für uns selbstverständlich sei und wir uns selbst dazu verpflichteten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Benachteiligungen besonders zu fördern. Und immerhin habe meine Sozialarbeiterin eine leichte Gehbehinderung. Gänzlich ungeschickt war es natürlich zu erwähnen, dass die andere wesentlich jünger sei, was ihr bei der Jobsuche wohl einen gewissen Vorteil verschaffe. Außerdem sei sie unbestreitbar sehr hübsch und wisse dieses Privileg gut einzusetzen.
Nein, ich bin nicht gleich an diesem Tag gekündigt worden. Der Geschäftsführer hat mir in der Sitzung nur zugenickt und mit einem anderen Tagesordnungsthema weitergemacht. Aber eine Woche später wurde ich zu einem Gespräch gebeten. Auch hier ging es nicht um meine Kündigung, jedenfalls vordergründig nicht. Ich wirke in letzter Zeit sehr angespannt, gleichzeitig verbissen. Typische Anzeichen für Burnout. Ich solle mir ausgiebig Zeit für mich selbst nehmen. Man würde mich bei einem Antrag auf Bildungskarenz, am besten gleich ein Jahr, unterstützen. Und natürlich müsse ich mich nicht sofort entscheiden, aber ich solle auch an die Firma denken und mir nicht zu lange Zeit lassen.
Ich werde dieses Angebot annehmen, obwohl ich weiß, dass es eine Falle ist, nur im ersten Moment verlockend klingt. Der Geschäftsführer will mich loswerden – vielleicht wollen das auch einige Kolleginnen und Kollegen. Er will nichts mehr davon hören, für welche Werte der Verein einmal stand und wie deren Umsetzung in der täglichen Arbeit ausschauen sollte. Denn sonst könnten auch andere auf die Idee kommen, unser Leitbild ernst zu nehmen, könnten fragen, warum wo wie viel investiert wird, wie es sein kann, dass die Tochter des Obmanns gleich nach der Ausbildung eine Teamleiterinnenfunktion bekommen hat. Nein, so etwas darf nicht passieren.
Ich könnte versuchen, damit aufzuhören, eine Ratte zu sein. Ich könnte – wie viele andere – immer zuerst auf mich schauen. Aber es gelingt mir nicht, wie sehr ich mich auch bemühe. Ich werde das Angebot annehmen, obwohl ich weiß, dass so zur Mitte der Auszeit die Kündigung kommen wird. Oder erst unmittelbar nach der Karenz. Aber sie wird kommen, weil die Ratte verschwinden muss. Trotzdem werde ich das Angebot annehmen, nicht kämpfen, keine Szene machen.
Denn ich bin zwar eine Ratte, aber inzwischen bin ich eine müde Ratte.
A star is born
Die Mama hat gesagt, heuer zu Weihnachten bekommen wir etwas ganz Besonderes. Es wird vielleicht nicht genau am Weihnachtsabend da sein, sondern erst ein bisschen später. Es kann aber auch sein, dass es ein paar Tage früher kommt. Jedenfalls wird es ein besonderes Fest. Und darum habe ich schon am Tag vor dem Heiligen Abend mein schönes rosa Kleid angezogen und habe den ganzen Tag gewartet. Aber es ist nichts passiert. Mama und Papa waren so aufgeregt. Mama hat sich ihren dicken Bauch gehalten, und Papa hat sie dauernd gefragt, ob es schon losgeht. Die Oma war schon seit ein paar Tagen da. Sonst kommt sie immer erst am Weihnachtsabend. Sie hat gekocht und den Christbaum aufgeputzt. Ich habe nicht mehr ins Wohnzimmer dürfen. Die Erwachsenen glauben immer noch, dass ich keine Ahnung habe, wer den Christbaum kauft und schmückt.
Dabei weiß doch jedes Kind, dass man den Baum ganz besonders schön mit vielen Kerzen machen muss, damit das Christkind in die Wohnung findet und die Geschenke darunterlegen kann. Das hat uns die Tante Evelyne erzählt. Wir haben im Kindergarten nämlich auch einen Christbaum, vor ein paar Tagen war der auf einmal in der Eingangshalle. Er ist schon schön geschmückt, aber ohne Kerzen. Wir haben die Tante gleich gefragt, ob das Christkind auch im Kindergarten Geschenke bringt und den Baum vorher hergestellt hat. Die Tante hat gelacht und uns dann erklärt, wie das mit dem Baum und den Geschenken funktioniert. In der Halle steht der Baum nur, damit wir uns daran erinnern, dass bald Weihnachten ist. Und Kerzen braucht er keine, weil das Christkind am Heiligen Abend nicht hereinfinden muss. Dann sind wir doch alle zu Hause.
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