Das ganze innerste Hausleben drang in die Sommernacht hinaus und ließ sich unter dem Sternhimmel ebenso behaglich gehen wie unter der niedrigen Zimmerdecke. Hin und wieder raschelte ein niederfallender Tautropfen im Laub, und die feuchten Blätter begannen stark und wohltuend zu duften.
Weiter die Straße hinab, vor der Kirche, traten die Bäume dichter zusammen, und unter ihren Ästen war es ganz finster, dennoch vermochte Rosa von ihrem Fenster aus hie und da ein weißes Mädchenkleid zu erspähen, oder eine brennende Zigarre leuchtete wie ein roter Stern. Helles Mädchenlachen erscholl, hohe ausgelassene Noten in die Stille rufend. So manche Dienstmagd mochte sich dort mit ihrem Schatz der lauen Nacht freuen. Rosa nahm Interesse daran. Jene Bäume schienen etwas Geheimnisvolles, Süßes und Lustiges zu bergen, etwas, das sie in ihr armes Leben herüberwünschte, etwas von jenem Gefühlvollen, das der schöne Abend sie ersehnen ließ. Ach Gott, ja – etwas…
Im Nebenzimmer regte es sich. Das war Agnes Stockmaier. Sie wird sogleich in das Zimmer treten und die Lampe bringen. Die Lampe mit ihrem blau und weißen Porzellanfuß wird, wie jeden Abend, dort auf der roten Tischdecke stehen und ihren gelben Lichtkreis auf die Zimmerdecke werfen. Ja, und der Vater wird heimkommen und von Klappekahl, Lanin und dem Doktor erzählen; und sie, Rosa, wird verstimmt und unfreundlich gegen ihren Vater sein – und wieder ist ein Tag ihres Lebens verloren. Das musste geändert werden! – Gut, morgen wollte sie Herweg sagen, er solle sie unten am Fluss um neun Uhr abends erwarten. Ein wahres, echtes Stelldichein sollte das werden, wie die Bäume drüben es verdeckten. Herweg war heute gut und poetisch gewesen, da konnte sie ihm wohl etwas zuliebe tun. Auf diese Weise würde sie doch auch einmal teilhaben an der Sommernacht und ihrem Gemunkel. Der Gedanke war gut.
Am folgenden Tage traf Rosa Herweg auf dem Weg in die Schule und bestellte ihn für elf Uhr in die Laube. Herweg machte ein überraschtes und erfreutes Gesicht und dachte keinen Augenblick an die Gefahr einer abermaligen Versäumnis. Der Plan einer abendlichen Zusammenkunft mit Herweg stand bei Rosa noch immer fest. »Ich bin es dem armen Jungen schuldig«, sagte sie sich, wenn ein wenig Unruhe über ihr Vorhaben sie beschlich. So saß sie denn in geheimnisvoller Geistesabwesenheit auf der Schulbank und stützte den Kopf sorgenvoll in die Hand.
»Ah! Rosa! Mein Herz!« Fräulein Lanin stand vor ihr. Auch sie war heute besonders sinnig und drückte ihren Noël, unter dem sich der dünne achte Band von »Emmas Schmerz« verbarg, fest an das Herz. »Weißt du, ich meine das, wovon wir gestern sprachen. Du entsinnst dich – ah? – Er kommt vielleicht schon heute abend.« – »So«, erwiderte Rosa, sah ernst auf, hob langsam ihre Hand über den Tisch empor und ließ sie schlaff wieder sinken; eine hübsche Bewegung, die zu bedeuten schien: »Es ist gleichgültig. Sie kommen und gehen.«
»Ja«, fuhr Fräulein Lanin fort, und obgleich es sich offenbar um ein wichtiges Geheimnis handelte, so sprach sie doch sehr laut: »Ich habe seinetwegen – du weißt? – mit dem Papa eine ernste – wirklich eine sehr ernste – Unterredung gehabt, die mir viel zu denken gibt.«
»Ah.« Rosa hätte gern Näheres darüber erfahren, sie mochte jedoch nicht fragen. Es war auch nicht nötig, denn Fräulein Lanin begann angelegentlich: »Er sagt, und er hat gewiss recht, dass unsere Familie mit der Aufnahme von A. T. sehr ernste Pflichten übernehme und somit auch mir ein Teil – und weißt du, der Papa sagt, nicht der unwichtigste Teil – zufalle.«
»Ah so! Ich verstehe, weiblicher Einfluss«, schaltete Rosa ein.
»Das ist’s«, fuhr Fräulein Lanin fort. »Der arme junge Mann ist leichtsinnig, ist verführt worden; er ist jetzt vielleicht leidend; du weißt, die Brust – das kommt leicht bei solchen Gefühlskrisen. Dabei ist er verwöhnt, der einzige Sohn sehr reicher Eltern. Nun – ihm Befriedigung und Erheiterung zu bieten, das ist unsere Pflicht. Ich habe beschlossen, sehr freundlich gegen ihn zu sein. Uns Frauen gelingt es doch am besten, solche Wunden zu heilen. Von der Tanzgesellschaft sprach ich schon mit dir. Nun – und im täglichen Leben will ich in ernsten Gesprächen sein Vertrauen erwerben, will ihn auf den einzigen Trost, auf Gott, hinweisen. Es ist eine schwere Aufgabe, ich weiß das wohl, aber sie ist schön, nicht wahr, mein Herz?«
Fräulein Lanin neigte ihren Kopf auf die linke Schulter und blickte ihre Freundin ernst an. Auf Rosa jedoch hatte dieser Bericht einen ganz unerwarteten Eindruck gemacht. Sie, die ein wirkliches Stelldichein vorhatte, fühlte sich heute über all ihre Kameradinnen erhaben, und Fräulein Lanins Pläne erschienen ihr kindisch und machten sie ungeduldig: »Ich verstehe nicht, wie du glauben kannst, dass ein junger, leichtsinniger Mensch an frommen Gesprächen mit dir Gefallen finden wird.«
Fräulein Lanin warf Rosa einen schnellen Blick zu, richtete sich dann kerzengerade auf, zog die Augenbrauen empor, was ihr einen verachtenden, aber geduldigen Ausdruck verlieh, und sagte fest: »Ich weiß es sehr genau, bestes Herz, wie ernste Worte auf junge Leute wirken. Und er – mein Cousin«, sie betonte dieses Wort scharf, »er wird gewiss nicht gegen einen sanften, wenn auch nicht weltlich leichtfertigen, sondern, wie der Papa sagt, tiefinnerlichen weiblichen Einfluss unempfindlich sein.«
Diese Periode klang gut; Rosa jedoch lachte unverhohlen und zuckte die Achseln. »Mir will es scheinen«, sagte sie schnell, »dass die Bekehrung dieses neuen Korinthen-Konrads nicht…« – »Er ist mein Cousin«, rief Fräulein Lanin sehr laut. – »Gut, gut«, fuhr Rosa tollkühn fort, »ich glaube, dass die Bekehrung nicht das einzige ist, worauf du hoffst.« – »Sondern – sondern«, drängte Fräulein Lanin und kniff die Augen zusammen, was sie für ein Zeichen vornehmer Kaltblütigkeit hielt.
»Gleichviel«, meinte Rosa. »Ich wünsche dir guten Erfolg. Nur behaupte ich, dass lange Predigten nicht das rechte Mittel sind. Ich wenigstens würde mich dafür bedanken.«
»Ja – du – du«, fuhr Fräulein Lanin auf, »ich habe mich sehr in dir getäuscht, gute Rosa! Und von jetzt ab…«
Fräulein Schank trat in das Zimmer. Die Schülerinnen drängten zu den Bänken; ein plötzliches wirres Durcheinander – der Lärm scharrender Füße – das Klappen der Bücher – dann tiefe Stille.
Rosa und Fräulein Sally mussten sich trennen. Diese, in der Aufwallung verletzter Freundschaft unterbrochen, begab sich langsam an ihren Platz. Zuweilen schaute sie auf Rosa zurück, zuckte mit den Achseln und Augenbrauen; dann faltete sie die Hände über der französischen Grammatik und saß still und ergeben da, wie es einer frommen Christin gebührt. Diese ergebene Ruhe wich auch nicht von ihr, als Fräulein Schank trocken verlauten ließ: »Sally Lanin.« Dieses hieß so viel als: »Stehen Sie auf und zeigen Sie, dass Sie die La Fontainesche Fabel von den zwei Ratten wieder nicht gelernt haben.« Nein! Fräulein Sally hatte die Fabel nicht gelernt. Sie erhob sich langsam, ein bitteres Lächeln auf den Lippen, die Blicke träumerisch in die Ferne sendend. Nachlässig warf sie einige Worte hin: »Un rat des champs – des champs – un rat.« Dann schwieg sie. »Mademoiselle!« rief Fräulein Schank. Fräulein Sally aber hörte nicht auf sie, sie dachte gar nicht an diese kleinliche Person. Verklärt und geistesabwesend stand sie da, wie Amina, die arme Nachtwandlerin, wenn sie im vierten Akt dicht vor die Lampen tritt, um ihre große Arie zu singen.
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