»Ich komme zu Ihnen, lieber Klappekahl«, meinte Herr Herz, »ich dachte mir, Sie werden vielleicht etwas wissen.«
»Ja – lieber Freund«, erwiderte der Apotheker und strich sinnend mit der Hand über sein Kinn. »Ein schwieriger Fall! Nun – aber – aber – – das Schlimmste ist doch noch nicht geschehen?«
»Wie, das Schlimmste?«
»Ich meine, nur kleine Unvorsichtigkeiten liegen vor? Ach Gott! In einer Großstadt hätte das nichts auf sich, da lacht man über dergleichen; aber in unserem Neste wird aus der Mücke ein Elefant. Ich – persönlich – habe über solche Dinge meine selbständige, freiere Anschauung; aber schließlich muss man sich dem Milieu, in dem man lebt, fügen. Sehen Sie, meine eigene Tochter weicht von meiner Auffassung ab. ›Deine Ansicht ist eng, Ernestine‹, sagte ich ihr gestern. Was wollen Sie, das Mädchen steht eben auf dem Standpunkt der Gesellschaft, in der es lebt. Und näher besehen – ist denn die ganze Affäre ein so großes Unglück? Ein hübsches, intelligentes Mädchen wie Rosette – haha – ich nenn sie immer Rosette – das kommt überall fort. Wie wäre es zum Beispiel mit dem Theater? Haben Sie daran schon gedacht?«
»Nein!« entgegnete Herr Herz erstaunt. Daran hatte er wirklich nicht gedacht – und jetzt machte dieser Gedanke auf ihn nur einen peinlichen Eindruck. Sein mühsames, ärmliches Komödiantenleben schwebte ihm vor, und es erschien ihm wie ein Hinabsteigen, wie ein Verlust an Würde, wenn aus der soliden Schankschen Schülerin eine Theaterprinzessin werden sollte.
»Das wäre doch so ungünstig nicht«, fuhr der Apotheker fort und lächelte schalkhaft. »Was würde Rosette dazu sagen?«
»Sie! Mein Gott! Sie sagt, sie will ihn heiraten.«
Klappekahl ließ ein leises Pfeifen hören und kratzte sich mit dem kleinen Finger den Scheitel. »Das ist etwas anderes. Aber – offen gesagt – wenn die Eltern des jungen Mannes ihr Veto einlegen, wenn er selbst nicht daran will, was können Sie tun? Zum Heiraten kann niemand gezwungen werden.«
»Er hat es ihr versprochen«, wandte Herr Herz kläglich ein.
»Baba! So etwas tut man im Jugendeifer. Wer von uns hat das nicht getan? Hand aufs Herz! Sie – und ich – als wir jung waren, in einer Weltstadt lebten, haben wir da geglaubt, dass wir durch solche kleine Galanterien irgendwelche Verbindlichkeit übernehmen? Nein – also! Seien wir gerecht. Wie wollen Sie nun den jungen Mann zwingen? Ein Duell? Ja, in einer großen Stadt, da wäre auch das möglich; ich selbst würde mich Ihnen ohne weiteres zum Sekundanten anbieten; ich weiß, wie solche Affären ausgetragen werden. Aber hier? Unmöglich!«
»Unmöglich!« wiederholte Herr Herz tonlos. »Sie meinen also auch, das Kind soll fort?«
»Es wird nicht anders gehen, mein armer Freund.« Klappekahl reichte dem Ballettänzer beide Hände. »Unsere Freundschaft bleibt ungetrübt. Wir beide haben ein Stück Welt gesehen und wissen, was wir von den kleinstädtischen Vorurteilen zu halten haben.« Zapper unterbrach das Gespräch. »Herr Prinzipal, es muss Gummi arabicum aus dem Magazin geholt werden.«
»Mein Gott! Jetzt tritt die Reaktion ein. Die Stadt ist wie behext. Ich muss fort. Sie entschuldigen. Kann ich Ihnen sonst helfen – Sie wissen – mit dem größten Vergnügen. Morgen gebe ich eine kleine Soirée, so etwas zerstreut. Ich rechne auf Sie. Nur ältere Leute, Sie verstehen – sonst wäre es mir ein Vergnügen gewesen, Rosette bei mir zu sehen. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Arrivederci! Ich komme – ich komme!« Damit lief er fort.
Herr Herz war ein wenig getröstet. Der Apotheker hatte wenigstens nicht den überlegenen, jede Hoffnung raubenden Ton angenommen.
Er beurteilte Rosa milder und hätte sie zu seiner Soirée eingeladen, wäre es nicht eine Soirée für ältere Leute. Ja – er hatte hübsch und herzlich gesprochen, der Apotheker! – Aber Rosa musste dennoch fort – sie, die einzige Freude des alten Ballettänzers. Bei seinem Alter war es fast gewiss, dass er seine Tochter dann nie wiedersehen würde. Eine Trennung für immer! Und doch musste es sein. Sie sagten es ja alle, die klugen, umsichtigen Leute. Er selbst war hilflos. Was wusste er von all diesen Rücksichten? Er verstand die ganze sittliche Entrüstung nicht. Und doch hegte er eine so tiefe Verachtung seiner Vergangenheit, dass er seine Ansichten und Anschauungen, die sich von jener Vergangenheit doch nicht ganz losmachen konnten, im vorhinein für falsch und gemein hielt. Sein eigenes Urteil kassierte er ohne zu zaudern vor dem Urteil der vernünftigen, tugendstolzen Bürger, die nie um das tägliche Brot hatten tanzen oder um einen lumpigen Vorschuss bei einem lumpigen Direktor hatten kriechen müssen. Rosa musste fort, das war gewiss, und neben dem Schmerz über die bevorstehende Trennung empfand Herr Herz auch lebhafte Furcht vor seiner Tochter. Wie sollte er ihr seinen Entschluss mitteilen? Abgespannt, traurig, hungrig und müde kehrte er nach Hause zurück.
Rosa saß in der Fensternische des Wohnzimmers und nähte. Sie trug ihr blaues Sonntagskleid; die Haare hingen nicht wie sonst über den Rücken nieder, sondern waren aufgesteckt und mit einem blauen Bande geschmückt, das Herr Herz noch nicht kannte, und wie sie ruhig auf ihre Arbeit niedergebeugt dasaß, erschien sie ihrem Vater schöner und älter als sonst. Das war nicht mehr Rosa, das Kind. Über dieser blonden Gestalt lag eine ernste Jungfräulichkeit, die den Ballettänzer überraschte und einschüchterte; er wagte nicht so recht mit seinem Bericht herauszurücken und ging unstet im Zimmer auf und ab. Rosa nähte fort, als bemerkte sie die Aufregung ihres Vaters gar nicht. Endlich, als sie einen Faden über die Wachsrolle zog, blickte sie mit ruhigen, klaren Augen auf und fragte: »Nun?«
Herr Herz blieb stehen, zuckte die Achseln: »Es ist noch nichts ausgemacht. Das heißt, ich muss zusehen…«
»Wen hast du gesprochen?«
»Alle Welt, Lanin, Klappekahl. Mein Gott, wo bin ich nicht alles gewesen!«
»Was sagten sie?« – Herr Herz fand seine Tochter zu gesammelt, zu ruhig, das verwirrte ihn. »Gesagt haben sie genug. Aber – was! Schließlich ist es auch gleichgültig, was sie gesagt haben. Wir werden uns schon selbst helfen.«
»Reist Ambrosius ab?«
»Ja – morgen; Lanin sagt das wenigstens.«
»Und sie wollen alle, ich soll nach Russland fort?«
»Ja – sie haben alle davon gesprochen.« Die schmalen, trockenen Lippen des alten Mannes bebten. »Und, liebes Kind, was kann ich tun? Wenn die schlechten Leute dich hier quälen, wenn sie dir das Leben unmöglich machen – – nimm Vernunft an – Rosa – Kind.« Jetzt weinte er. »Du musst vielleicht doch fort.«
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