1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Natürlich gefällt es mir. Es ist ein schönes Kleid, eines mit Puffärmeln, das herrlich glänzt unter der Lampe wie in der Nacht die Straßen, wenn Regen auf sie fällt. Aber es gibt ein Problem damit: Das Kleid gehört Lea. Deswegen bin ich auch dagegen, dass ich es anziehe. Und dafür, dass wir trotzdem noch zu mir fahren. Andererseits: Ich weiß nicht, wie ich es Jack beibringen soll. Dass ich Leas Kleid nicht tragen will und dass ich gelogen habe vorhin. Ich weiß nur: Unter keinen Umständen ziehe ich das Kleid einer Toten an.
Aber dann, als ich gerade die Worte bereitlege, um Jack klar zu machen, dass das nicht geht, ist da wieder dieses traurige Lächeln in seinem Gesicht.
Er sagt:
– Es gefällt dir nicht, nicht wahr?
– Im Gegenteil, ich brenne darauf, es anzuprobieren!, höre ich jemanden rufen, und ich wundere mich über diese Worte und über die Begeisterung im Gesicht dieses Mädchens mit dem dunkelblonden Haar, das mir von der Schranktür entgegenlacht und das ich nicht bin in diesem Moment.
– Gut, sagt Jack und verlässt aus irgendeinem Grund das Zimmer.
Ich schaue auf die Tür, die sich hinter ihm schließt, und auf Leas Kleid, das so etwas wie auffordernd schimmert unter der Lampe. Ich erinnere mich an ein ähnliches Kleid, das ich getragen habe und das auch nicht meins war. Es hat meiner Schwester gehört, es war rosa und hatte auch solche Puffärmel an den Seiten und einen Ausschnitt mit Knöpfen, und dann habe ich es gekriegt. Ich mochte es sehr, aber es machte mich traurig, dass ich es nicht geschenkt bekommen habe und meine Schwester schon, und dass ich es erst gekriegt habe, als es ihr nicht mehr passte. Und dann kommt mir in den Sinn, dass es doch immer so gewesen ist, dass ich immer nur die getragenen Kleider meiner Schwester bekommen habe und nie was geschenkt.
– Bist du fertig?, fragt Jack durch die Tür.
Ich schaue auf das Kleid und dann schaue ich auf die Schiene an meinem linken Arm und den bleichen Daumen. Ich denke: Bist du blöd eigentlich?
– Kann ich reinkommen?, fragt Jack schon wieder.
– Ja, sage ich, – du musst.
– Okay, sagt Jack, und ich glaube, da steckt so eine Vorfreude in seiner Stimme oder auf ihr oder dahinter oder wie man das auch immer nennt. Jedenfalls hört man das jetzt.
Aber als er dann die Tür öffnet: großes Traritrara.
– Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen, und: – Gefällt es dir also trotzdem nicht?, und all so ein Zeug.
Ich zeige auf meinen linken Arm.
– Mal daran gedacht?
– Stimmt!
Ja und jetzt zieht er mir das Jäckchen aus und streift mir das T-Shirt über den Kopf und über die Knie die Pyjamahose. Eine Weile stehen wir so da, ich, weil mir nicht viel anderes übrigbleibt als zu warten, Jack, weil er irgendwie verlegen ist. Dann fischt er plötzlich eine halbe Schachtel Parisienne aus der Hosentasche, fingert mühsam eine Zigarette daraus hervor, macht sie an und zieht heftig daran. Er reicht mir den zur Hälfte abgebrannten Stengel, von dem ich zwei, drei Züge nehme, als mich Jack plötzlich umarmt. Und mit seiner Umarmung lösen sich hinter meinem Rücken mit einem Klicken die Häkchen des BHs und vom Boden her starren mich große Augen an aus einem Brillengestell aus schwarzer Spitze. Und dann liege ich auch schon auf dem Rücken, vor mir meine kleinen Brüste, die wegkippen nach links und nach rechts, und das krause Dreieck und Jacks Scheitel, der darin versinkt und wieder auftaucht, und seine Küsse auf meinem Bauch und unter meinem Kinn und in meinem Mund, der jetzt salzig wird davon, und vor allem seine Augen, diese auffordernden und dann wieder bremsenden und alles bestimmenden Augen und diese warme Flüssigkeit zwischen meinen Beinen, die herauskommt aus mir und wieder hineingepresst wird und wieder herausfließt. Und dann ist da mein schweißverklebtes Gesicht, meine geschwollenen Augen, das Gellen in den Ohren.
Ja.
Ich denke: Und das am Tag von Leas Beerdigung. Es ist ihr Tag. Und dann denke ich: Aber es ist auch mein Tag.
Jack hat es jetzt eilig mit dem Friedhof. Wie ein Besessener rast er los, und er lässt sich auch dadurch nicht entmutigen, dass ich ihm nach zehn Minuten bedeute, er soll rausfahren bei der ersten Tankstelle, und mir absichtlich Zeit lasse auf dem Klo. Als wir auf dem Friedhof anlangen, ist es nämlich früher, als es sein wird, wenn wir sein Haus verlassen haben werden, sodass wir jetzt wieder jede gewonnene Minute mühsam vertrödeln müssen.
Wir steigen aus und drehen eine Runde über den Friedhof. Jacks Schuhe stapfen knirschend über den Kies und so schnell, dass alles zerfließt zu einem pochenden Rauschen. Er klingt wie dieser Mann, der auf der Stelle zu rennen anfängt in meinem Kopf, wenn nachts das Kissen gegen ihn drückt oder meine Hände gegen die Ohren, und doch nie vom Fleck kommt. Man könnte jetzt denken, Jack sei auf der Flucht vor mir, aber das tue ich nicht. Da ist nämlich meine Hand fest in seiner und mein Körper, der ihr folgt, so gut es eben geht mit dem wenigen Blut, das jetzt in die Beine fließt und fehlt im Kopf. Jack tut das nur, weil er glaubt, dass die Zeit schneller vergeht, je schneller man läuft.
Dieser Friedhof ist der größte, den ich bisher gesehen habe in meinem Leben. Ich meine, ich habe nicht viele gesehen, aber der in Baden ist kleiner. Und er ist vor allem voller. Hier dagegen kann man Hunderte Meter gehen und kriegt kein einziges Grab zu Gesicht.
– Man kriegt fast den Eindruck, sagt Jack, – in Zürich werde zu wenig gestorben.
Natürlich sagt Jack nichts dergleichen. Es ist der Tag, an dem seine Schwester begraben wird. Aber wenn wir sonst auf den Friedhof gekommen wären, an einem anderen Tag – ich bin mir sicher, er hätte das so gesagt.
Stattdessen sagt er:
– Ich habe hier schon viele Spaziergänge gemacht.
Und dann, nach einer Pause:
– Um mich daran zu gewöhnen.
– Ich auch, sage ich, und denke an den Friedhof in Baden. – Ich habe das auch getan.
Jack schweigt. Er antwortet nichts.
– Aber man gewöhnt sich nicht daran, sagt er dann.
Wir stehen schon eine ganze Weile auf dem Parkplatz. Alles wartet. Die Sargträger warten, Leas Onkel und Tanten warten, ihre Cousins und Cousinen warten, Jack und ich warten, Lea wartet.
Wir warten auf ihre Eltern und einen Onkel.
Als sie endlich vorfahren im Taxi, geht die eine Tür im Fond schon auf, da hat der Wagen noch gar nicht gehalten. Heraus steigt ein bellender Wortschwall, und dicht hinter ihm folgt Jacks Vater. Er flucht so laut, dass man gar nichts versteht davon.
– Personenunfall und Streckensperrung, verdammte, sagt dann Jacks Onkel, der sich hinter seinem Bruder aus dem Taxi müht, aber auch hier kein Hallo zusammen oder wenigstens ein Winken.
Nachdem er sich etwas erholt hat, aber noch immer mit hochrotem Kopf, sagt Jacks Vater:
– Lea war so jung. Und dann gibt es da Leute, die schmeißen ihr Leben weg wie Taschentücher.
Er spuckt auf den Asphalt.
Und schaut in unsere Richtung, zu Jack und mir, mit diesem Blick, der mir immer ein schlechtes Gewissen macht, wenn ihn jemand aufsetzt in meiner Gegenwart.
Natürlich fühle ich mich irgendwie schuldig. Aber für die Streckensperrung kann ich wirklich nichts.
Dann steigt Jacks Mutter aus, bleibt stehen und schaut in die Runde. Die Trauergäste nähern sich nur langsam, keiner will sich aufdrängen, niemand der Erste sein. Nur Jack und ich, wir bleiben sitzen auf dem Mäuerchen im Schatten, bis meine Beine wieder das tun, wozu sie gemacht sind: stehen. Jacks Eltern nehmen unterdessen Umarmungen entgegen, schütteln Hände, lassen sich zentnerweise Beileid auf die Schultern laden. Bei all dem hört Jacks Mutter nicht auf, Ausschau zu halten in den Augenblicken zwischen einer Umarmung und der nächsten. Wonach, das weiß ich erst, als sie die Sonnenbrille hebt und aus ihren eng zusammenliegenden, geröteten Augen einen verlorenen Blick auf uns, in den Schatten, richtet, in dem ein Begrüßen liegt, ein wenig vordergründige Freude und ein ganzer Haufen Traurigkeit. Langsam kommt sie auf uns zu, in gleichmäßigen, ruhigen Schritten, sodass sich ihr Körper kaum bewegt und ihre Schultern nicht. Nur in ihrem Gesicht herrscht ständig Bewegung, Mienen werden durcheinandergeworfen von Freude, Rührung und Traurigkeit. Dann, als sie vor uns steht, steigt ihr das Wasser in die Augen, die glasig werden deswegen und anschwellen. Tränen ziehen schwarze Schlieren über die Wangen, ein Tropfen fällt ihr von der geröteten Nasenspitze.
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