– Erzähl mir was anderes, sagt er. – Irgendwas, woran ich nicht die ganze Zeit denken muss danach.
– Okay, sage ich.
Aber dann sage ich nichts, denn als ich durch meine Erinnerung gehe, sind da nur Schritte, die leise hallen in ihr und doppelt.
Jack heißt eigentlich René. Mit Betonung auf der ersten Silbe, das erste E als Ö ausgesprochen, wie es hierzulande üblich ist: Rönee. René will, dass ich ihn Jack nenne, weil die Dinge, die ihm zustoßen, normalerweise nur den Figuren eines grellen amerikanischen Roadmovies passieren. Und René, sagt er, das würde eben nicht dazu passen.
Ich finde, Jack klingt richtig mies, aber wenn einer so sehr mit den Wimpern klimpert wie Jack, während er dich um irgendwas bittet, dann erfüllst du ihm jeden noch so dämlichen Wunsch.
Also gut. Ich meine, das mit den Geschichten. Angefangen hat das eigentlich später. Einen Tag vielleicht. Oder eine Nacht. Wenn man’s genau nimmt.
Aber will man das?
Es ist nur: Wenn es etwas gibt, was ich nicht ausstehen kann, dann sind das Anfänge. Ich verabscheue den Morgen und ich verabscheue das Neujahr. Immer sind die Leute begeistert und immer sind sie randvoll mit Hoffnung deswegen. Dabei ist es doch genau umgekehrt, das mit der Hoffnung.
– Erst wenn du am Ende bist und der letzte Ausweg versperrt, solltest du dich aufs Hoffen verlegen, hat Viktor einmal gesagt.
Ich habe darüber nachgedacht, ob es mir besser ginge mit diesen Anfängen, wenn der Tag erst um elf beginnen würde und das Jahr erst im März.
– Es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen, sagt Jack, – du kannst ja doch nichts daran ändern.
Natürlich hat er recht.
Aber deshalb habe ich nicht darüber nachgedacht. Ich habe darüber nachgedacht, weil ich nichts ändern kann an der Situation und gefangen bin in ihr.
Jedenfalls. Ich liege im Bett und denke nach. Es ist der Abend des Tages, an dem Jack diese Geschichten hören wollte. Doch in meinem Kopf gibt es gerade keine Geschichten. Es gibt nur Unruhe und es gibt Leere in ihm. Aber davon kann ich Jack nicht erzählen.
Dann fällt mir doch etwas ein. Mir kommt in den Sinn, warum mir nichts in den Sinn kommt: Als Hilde so spät noch ins Zimmer gekommen ist, um mir den Blutverdünner zu spritzen, ist es vergessen gegangen, das mit den Füßen. Ich mache das Licht an, werfe die Decke zurück, steige in die Pantoffeln und gehe ein paar Schritte umher, aber nur so weit, dass ich Hugo nicht wecken muss, der tief und fest schläft am Rand. Dann setze ich mich wieder aufs Bett, streife die Pantoffeln ab, strecke mich aus und decke mir die Beine zu. Ich merke sofort, wie es ruhiger wird in meinem Innern. Bevor ich ins Bett steige, muss man wissen, dürfen meine nackten Füße den Boden nicht berührt haben. Das Gefühl des kalten Bodens unter meinen Sohlen lässt alle Gedanken einfrieren in mir.
Am nächsten Tag ist alles besser. Jack ist wieder da und ich komme ins Erzählen. Die ganze Nacht über habe ich nachgedacht und den ganzen Morgen, und als ich damit fertig war, habe ich mir eine Dose Cola gekauft in der Cafeteria. Es muss Cola sein und es muss eine Dose sein. Wenn ich es mit den Nerven zu tun kriege, muss ich mich irgendwo festhalten können.
Wenn der Wind nicht weht, erzähle ich, ist er in den U-Bahntunneln versteckt. Bevor die U-Bahn auf den Kontinent kam, hat es keinen Wind gegeben in Europa. Bienen gehen am Durchfall zugrunde, wenn sie vom Nektar der Kornelkirsche trinken. Die UdSSR ist der einzige Staat auf der Welt, dessen Hauptstadt nicht im eigenen Land liegt, sondern in Südafrika.
– Soweto – Sowjetunion … Verstehst du?
– Klar, sagt Jack, und: – Hast du noch mehr davon?
Aber hallo.
Und dann erzähle ich ihm vom Boden in meinem Zimmer, einem Dielenboden aus zweiter Hand. Meine Mutter hat ihn auf Raten gekauft, in einem Pfandleihhaus, sage ich, und als es zu Ende war mit dem Geld, haben sie ihn wieder abgeholt. Seither kann ich den Nachbarn unter mir beim Schlafen zuschauen, wenn ich durch mein Zimmer gehe, und sie sehen meine Füße von unten, können mich im Grundriss betrachten.
– Echt?, fragt Jack.
Ich schüttle den Kopf. Natürlich nicht.
Jack verwirft die Hände.
– Schade, sagt er.
– Schade?
– Schade, dass das nicht wahr ist.
Von nun an hat mir Jack jeden Tag etwas mitgebracht. Unter seinem Alpacaponcho hat er einen Rucksack voller Fritten aufs Zimmer geschmuggelt. Manchmal auch Schokolade, dann sogar eine Flasche Champagner. Der Alte hat immer dichtgehalten. Aber Jack mag ihn trotzdem nicht. Ihm passt nicht in den Kram, dass wir das Zimmer teilen. Er ist eifersüchtig, glaube ich.
Auch meine Mutter hatte was gegen den Alten in meinem Zimmer, da war sie für einmal einig mit Jack. Natürlich hat sie ihm das nicht gesagt, ist ja nicht so, als ob deswegen gleich … Egal. Jedenfalls hat sie dem Chefarzt alle Schande gesagt, hat sie. Von wegen Geschlechtertrennung und Privatsphäre, und ob das alles nichts mehr gelte in diesem Sauladen. Ja, Sauladen sagte sie, aber viel drauf gegeben hat der Doktor nicht. Irgendwas von Wunschkonzert hat der gesagt und Auslastung und ökonomische Zwänge und das ganze Brimborium, das man veranstaltet, wenn dir einer blöd kommt wegen ein paar Wachteleiern, du ihm aber keine reinhauen darfst. Statt einer ordentlichen Abreibung also die Frage, ob sie schon mal über eine Privatversicherung nachgedacht habe.
– Und sonst gibt’s ja immer noch das Katholische, schiebt der Chefarzt nach und verlässt das Zimmer.
Das zeigte Wirkung. Zu den Katholen oder Privatversicherung? Dann doch lieber die Tochter mit einem Wildfremden im Zimmer.
Mir sollte es egal sein. Wenn dein Leben an einem dünnen Silikonschlauch hängt, hast du echt andere Sorgen als das Geschlecht deines Zimmernachbarn.
Einmal wollte Jack wissen, warum ich im Krankenhaus bin. Natürlich habe ich ihm nichts gesagt.
– Ist doch egal, habe ich gesagt, – jetzt geht’s mir wieder gut.
Jack zuckte mit den Schultern, wie er das immer tut, wenn er sagen will: Okay.
Aber lassen konnte er’s dann trotzdem nicht, hat überall herumgefragt. Aber die Schwestern: Haben sich dumm gestellt. Die Ärzte: Fehlanzeige. Meine Mutter: Wo denkste hin. Und Hugo: Erst recht nicht.
Blieb einzig, den Alten abzuklopfen, während ich auf Toilette war.
Als ich die Tür öffne, hebt der gerade seine Lider, mühevoll und unendlich langsam, und seine dünnen Lippen spalten sich. Es hüstelt in seiner Brust, dumpf und fern, als würden irgendwo dort unten die letzten Ausläufer eines Feuerwerks explodieren. Von den Händen, die auf der gestreiften Decke nebeneinanderliegen wie zwei rückwärts geparkte Autos, hebt sich einer der dünnen Finger. Jack und ich – jetzt ist uns beiden klar: Die Sache ist raus.
Aber der Alte: sagt nichts.
Jack wiederholt die Frage, doch das Geräusch, mit dem sich die Zunge des Schlosses hinter mir in den Türrahmen streckt, schreckt ihn auf.
Jack kam jetzt jeden Tag vorbei. Meistens um zwanzig nach drei, manchmal auch um halb vier. Wenn er um viertel vor noch nicht aufgekreuzt war, wurde ich nervös. Aber irgendwann vor Ende der Besuchszeit kam er trotzdem. Um fünf wurde er normalerweise weggeschickt. Hilde drückte auch mal ein Auge zu, ließ ihn bis zum Abendessen bleiben. Jack kam mit allen gut aus, aber Hilde, das ist die, mit der er sich am besten verstand.
Man hatte das Gefühl, die beiden kannten sich schon länger.
Und dann war da dieser Mittwoch mit dem Seidenschal. Das war nicht irgendein Seidenschal und schon gar nicht meiner. Aber ein Frauenschal war’s jedenfalls, den Jack da in seinem Rucksack hatte. Ich hab’s ganz genau gesehen, als er den kühlen Champagner hervorzauberte.
Ich meine, ich bin nicht eifersüchtig oder so. Aber wenn dein Typ einen Frauenschal mit sich herumträgt, dann musst du dir einige Fragen gefallen lassen. Es sei denn, er schenkt ihn dir. Dann ist es was anderes. Aber das hat er nicht getan. Also hat er eine andere. Oder er ist schwul. Du denkst: Ja klar, diese gewollte Vernachlässigung seiner Eleganz, die gezierten Wendungen seines Kopfes und vor allem: sein Alpacaponcho. Also schwul. Das ist scheiße. Nicht das Schwulsein an sich, wir verstehen uns. Aber ausgerechnet Jack. Der hat nicht schwul zu sein. Punkt.
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