Aber was ich weiß, ist, dass ich jetzt mit Kilian allein bin. Nach ein paar Minuten habe ich mich wieder beruhigt und stehe langsam auf. Ich halte mich dabei an der Wand fest, um nicht umzufallen. Ich streife meine Pumps von den Füßen und stelle sie zur Seite. Dann setze ich mich auf einen Stuhl neben Kilians Bett und beobachte ihn noch einmal genauer. Ich kann die Schläuche gar nicht alle zählen, die an ihm hängen. Er ist bis zur Brust zugedeckt, somit sehe ich auch nicht, wo die meisten Schläuche hinführen. Sein linker Arm liegt auf der Decke. An seiner Hand ist eine Braunüle mit einem weißen Pflaster befestigt. Zwei Schläuche führen in seine Nase und seinen Mund. Wofür der ganze Kram gut ist, ist mir nicht ganz klar, und ich weiß auch nicht, ob ich das wissen möchte. Er hat ein Pflaster über seinem rechten Auge. Wahrscheinlich hat er dort eine Platzwunde von dem Aufschlag auf der Straße. Seine Augen sind geschlossen und es sieht aus, als würde er schlafen.
Ob er wohl spürt, dass ich hier bin? Manche Menschen sagen, wenn man im Koma liegt, spürt man, wenn Menschen um einen herum sind, und hört alles, was sie sagen. Ich glaube, meine Mutter hat recht. Kilian braucht mich jetzt. Ich schaue in sein Gesicht. Er hat nicht nur eine Platzwunde über dem Auge, das ganze Auge ist irgendwie angeschwollen und auf seinen Lippen kann man noch etwas Blut sehen. Er ist eigentlich komplett zerstört, aber sieht trotzdem noch total umwerfend aus. Wie macht er das nur? Seine schwarzen Locken liegen auf dem weißen Kopfkissen. Wie gerne ich mich jetzt zu ihm legen und mich an ihn kuscheln würde.
Es ist keine vierundzwanzig Stunden her, dass es passiert ist. Meine Miene verdunkelt sich wieder. Das Ganze wäre niemals passiert, wenn wir beide nicht so stur gewesen wären. Wie konnten wir nur so dumm sein? Ich würde mir das niemals verzeihen, wenn er das jetzt nicht überleben wird. Nein. Stopp. Wie kann ich so etwas nur denken? Natürlich wird er das überleben. Ich brauche Kilian in meinem Leben. Ohne ihn gibt es mich nicht. Natürlich schafft er das. Er war schon immer stark und auch das wird er durchstehen.
Ich blicke zu seiner Hand. Irgendwie habe ich Angst davor, sie zu berühren. Warum, weiß ich nicht. Es ist so komisch, dass er sich nicht rührt. Ich zögere zwar kurz, nehme seine Hand dann doch. Schlaff liegt sie auf meiner Handfläche. Vorsichtig streiche ich über seine schokoladenfarbene Hand. Seine Hautfarbe hat mir schon immer gefallen. Sie passt zu ihm und so wie er ist, sieht er unfassbar gut aus. Es gibt Unmengen an Menschen, die ein Problem mit dunkelhäutigen Leuten haben. Warum, habe ich bis heute nicht verstanden. Ja, sie sind anders als wir hier in Deutschland. Und? Sie sind doch auch nur Menschen. Sie sehen vielleicht anders aus, aber haben doch genauso wie wir Kopf, Verstand, Seele und vor allem ein Herz. Es muss hart sein, wenn man dauernd beleidigt wird, nur, weil man eine andere Hautfarbe hat. Schließlich können diese Menschen relativ wenig dafür, wer ihre Eltern sind und wo sie geboren wurden. Über solche Themen könnte ich mich stundenlang aufregen, aber letztendlich bringt es ja doch nichts. Ich mag seine schokoladenfarbene Hautfarbe. Sie sieht aus wie Vollmilchschokolade.
Ich beschließe gerade, mir einen Kaffee zu holen, als jemand in Kilians Zimmer kommt. Es ist eine korpulente Frau, die eine genauso schöne vollmilchschokoladenfarbene Hautfarbe hat wie Kilian. Ihre schwarzen Haare sind zu winzig, kleinen Zöpfen geflochten, die alle zu einem Dutt zusammengebunden sind. Sie hält einen großen Blumenstrauß mit beiden Händen fest und bleibt an der Tür stehen. Sie schaut mich lange an. Langsam stehe ich auf. Sie hat die gleichen Augen wie Kilian. Oder besser gesagt ... Kilian hat die gleichen Augen wie sie. Es muss seine Mutter sein. Neyla Settler. Sie legt den Blumenstrauß auf den kleinen Tisch und kommt auf mich zu. „Oh, Alicia.“
Woher kennt sie meinen Namen?
Ihre Stimme klingt traurig, aber ich kann heraushören, dass es sie freut, mich zu sehen. Sie hat eine beruhigende, eher tiefe Stimme, die mir auf Anhieb gefällt. Obwohl wir uns noch nie zuvor gesehen haben, schließt sie mich sofort in ihre Arme. Ich kenne diese Frau eigentlich gar nicht, aber diese Umarmung tut unglaublich gut. Kilian meinte immer, dass sie ein Herzensmensch ist, den man einfach lieb haben muss. Jetzt weiß ich, was er damit gemeint hat. Sie muss ein unfassbar großes, gutes Herz haben.
Kilians Mutter setzt sich auf den Stuhl, auf dem ich vorher gesessen habe. Ich will gerade den Raum verlassen, aber Neyla bittet mich, noch kurz zu bleiben. Ich tue ihr den Gefallen, stelle mich an das Ende des Bettes und beobachte Kilian.
„Das Mädchen mit den braunen Locken und dem süßen Lächeln.“
Tränen stiegen in meine Augen, aber ich musste lächeln. Er hat ihr also tatsächlich von mir erzählt.
„Ich hatte nicht viel Zeit mit ihm, nachdem ihr wiedergekommen seid, aber das Erste, was er erzählt hat, war, dass er sich in ein Mädchen mit braunen Locken und einem süßen Lächeln verliebt hat“, sagt Neyla fortführend.
Jetzt laufen mir erst recht Tränen die Wange hinunter. Schnell wische ich sie mit meiner Hand weg. Wie ich diesen Jungen liebe. „Es tut mir unfassbar leid“, sage ich leise. Ich flüstere fast. Ich weiß nicht mal, was mir so leidtut. Wahrscheinlich einfach die Tatsache, dass sie ihren Sohn so sehen muss. Das hat keine Mutter verdient.
Doch sie schüttelt den Kopf. „Nein. Das muss dir nicht leidtun. Du kannst doch nichts dafür, Liebes. Er ist ein taffer Junge. Er schafft das.“
Nachdenklich nicke ich nur.
„Ich gehe mir jetzt einen Kaffee holen“, sage ich, streife meine Schuhe wieder an meine Füße und gehe auf die Tür zu. Neyla nickt nur und bringt ein knappes Lächeln hervor. Kurz hinter der Tür bleibe ich für einen Moment stehen. Ich höre, wie Neyla mit Kilian redet.
„Oh, Kili. Mein Junge. Womit hast du das nur verdient?“
Mit schnellen Schritten gehe ich weiter und lasse Neyla mit ihrem Sohn allein. Kilian hat oft von seiner Mutter erzählt. Sie kommt ursprünglich aus Eritrea, einem Land im Osten von Afrika. Als junge Frau ist sie nach Frankreich gezogen, wo Kilian geboren wurde. Als er noch klein war, sind sie nach Deutschland gekommen. Seinen Vater hat er nie erwähnt. Ich weiß bis heute nicht, was mit ihm ist. Ich habe zweimal nachgefragt, doch Kilian ist der Frage immer ausgewichen. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Ich bin mir sicher, dass Neyla schon einiges durchmachen musste. Ihr Leben war bestimmt nicht immer einfach. Sie ist nicht ohne Grund plötzlich nach Frankreich und dann weiter nach Deutschland gezogen. Kilian hat oft gesagt, wie sehr seine Mutter ihr Heimatland Eritrea liebt. Vielleicht wollte sie einfach nur weg von ihrem Mann. Schließlich gibt es nicht nur gute Menschen auf der Welt.
Neyla tut mir unfassbar leid. Ich glaube, das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann, ist, sein Kind zu verlieren. Das ist schlimmer als der eigene Tod und alle Schmerzen dieser Welt. Niemand sollte so etwas erleben müssen. Sie hat Kilian zwar nicht verloren, aber es muss schon schlimm genug sein, ihn so zu sehen. Auch sie hat keine Gewissheit, dass er das hier überleben wird. Wir hoffen es zwar alle, jedoch können wir es nicht wissen. Ich bewundere Neyla. Diese Frau hat nicht nur ein großes Herz, sie ist auch unfassbar stark. Sie wusste, dass in diesem Zimmer ihr eigener Sohn liegt und trotzdem hat sie sich erst mir zugewandt, bevor sie sich um ihr eigenes Kind gekümmert hat. Sie ist nicht in Tränen ausgebrochen und war auch nicht knapp am Verzweifeln, so wie ich es war. Das ist stark sein. Genau das.
* * *
Die nackten Äste der zwei großen Bäume wiegen sich im Wind. Man sieht deutlich, dass die Bäume schon sehr alt sind. Die Wurzeln gehen meterweit von den Stämmen der Bäume weg. Blätter sind absolut nicht mehr zu sehen. Der Wintereinbruch ist im vollen Gange. Ich mag den Winter nicht besonders. Viel zu große Pullis anziehen und heißer Kaffee ist das Einzige, was ich an dieser Jahreszeit leiden kann. Oft ist es zu kalt und dann der ganze Matsch draußen. Das braucht doch niemand. Wenn wenigstens ordentlich Schnee liegen würde, wäre meine Meinung wahrscheinlich wieder anders. Aber mit dem Auto durch den Matsch und über die glatten Straßen zu fahren, ist absolut nicht meins. Ich brauche dringend wieder Frühling. Die Zeit, in der sich die Temperaturen langsam in die Höhe verfrachten und die Sonne schön warm scheint. Wenn die Blätter wieder grün werden, die schönen Blumen wachsen und die Welt wieder bunt wird. Nicht so eintönig grau wie jetzt gerade. Wenn man früh aufwacht und das Zwitschern der Vögel hört. Genau diese Zeit brauche ich.
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