Und das Schlimmste von allem ist, du weißt nicht, wie lange der Schmerz noch andauert. Du weißt nicht, wann er vorbei ist. Oder ob er überhaupt irgendwann vorbei sein wird. Du weißt gar nichts mehr.
Nichts.
Ja, so geht es mir gerade. Langsam richte ich meinen Blick nach vorne und höre auf, den Boden anzustarren. Ich stehe vor dem Spiegel und schaue mich skeptisch an. Ich mustere mich von oben bis unten. Meine Füße sehen ungewöhnlich klein aus in meinen schwarzen Pumps. Okay, so ungewöhnlich ist das dann doch nicht. Ich habe die Schuhe eine Nummer kleiner gekauft, da ich sonst dauernd hin und her gerutscht wäre. Ich mag die Schuhe. Aber genauso wie alle anderen hohen Schuhe sind sie unfassbar unbequem. Eventuell könnte das auch daran liegen, dass meine Feinstrumpfhose heute gar nicht sitzt. Ich habe allerdings keine andere gefunden. Sie haben alle Laufmaschen oder Flecken.
Ich streiche meinen Rock glatt und ziehe meinen schwarzen, engen Pullover an allen Seiten noch einmal zurecht. Ich mache einen Schritt zurück und betrachte mich. Das ist also mein neuer Style. Bunte Klamotten werden in nächster Zeit erst einmal nicht mehr an mir gesehen werden. Diese fröhlichen Farben passen im Moment nicht zu meiner Stimmung. Ich weiß, dass die schwarzen Klamotten aussehen, als würde ich gleich zu einer Beerdigung gehen. Das ist nicht der Fall, doch trauern tue ich trotzdem irgendwie. Ich finde es einfach unpassend, jetzt fröhliche Klamotten anzuziehen. Meine Gesamterscheinung gefällt mir aber eigentlich ganz gut. Ich sehe irgendwie erwachsener aus. Meine braunen Locken fallen ausnahmsweise Mal gut. Sie reichen geradeso bis zur Schulter, was mir aber besser steht als meine langen Haare, wie ich finde. Vor einem halben Jahr habe ich sie abschneiden lassen, da mich meine langen Haare nur noch störten. Seitdem lasse ich sie mir immer wieder auf diese Länge abschneiden, wenn sie gewachsen sind.
Mein Blick fällt auf meine Kette. Es ist eine dünne, silberne, schlichte Kette mit einem Schlüssel als Anhänger. Der Schlüssel zu seinem Herzen. Ich spüre einen Stich, der sich durch mein Herz zieht. Ich kann genau beobachten, wie meine Augen binnen Sekunden gläsern werden. Ich beiße mir auf die Lippe. Nicht schon wieder! Ich schließe kurz die Augen und hole mir den Gedanken zurück, dass ich stark bleiben muss. Schwäche zeigen, ist keine Option. Ich atme tief durch, dann öffne ich sie wieder. Meine blaugrauen Augen schauen mich durch den Spiegel an. Sie wirken zwar traurig, was auch kein Wunder ist, aber ich bin nicht mehr kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen. Ich berühre die Kette vorsichtig mit meinen Fingern. Sie ist so wunderschön. Ich bin ihm so dankbar dafür. Es ist mit Abstand das Schönste, was ich jemals von einem Jungen geschenkt bekommen habe.
Ich drehe mich um und schaue kurz durch mein Zimmer. Es sieht ein wenig so aus, als würde hier niemand wohnen. Alle Möbel sehen so unberührt aus, aber ich bin schon immer so ordentlich gewesen. Alles sieht so normal aus, als wäre nie etwas passiert. Ein Bett, auf dem ein aufgeschütteltes Kissen und eine zusammengelegte Decke liegen. Ein Schrank, in dem alle Sachen ordentlich zusammengefaltet sind. Ein Schreibtisch, auf dem ein Blatt Papier und ein Stift schon bereitliegen. Die restlichen Stifte stehen ordentlich in einem Stifte-Behälter. Am hinteren Tischrand liegen sieben Bücher übereinandergestapelt. Sieben verschiedene Bücher, sieben verschiedene Länder. Lange Zeit habe ich mich intensiv damit beschäftigt. Ein paar Regale, in denen alle anderen Bücher nebeneinanderstehen, sind im Zimmer verteilt. Und ein paar Bilderrahmen auf einer Kommode neben meinem Bett. Ich gehe auf sie zu und nehme einen in die Hand. Er und ich. In die Kamera lachend. Glücklich. Das Bild entstand in Venezuela. Wir sitzen in einem Boot und hinter uns ist der gigantische Wasserfall. Wie ich diese Momente mit ihm vermisse. Ich vermisse sie jetzt schon und weiß absolut nicht, wie ich ohne ihn klarkommen soll. Wir hingen sieben Monate Sekunde für Sekunde aufeinander. Jetzt auf einmal getrennt sein zu müssen, zerbricht mein Herz – und nicht nur mein Herz zerbricht, sondern auch mein gesamter Körper. Ich streichle mit meinem Daumen kurz über ihn, dann stelle ich das Bild zurück. Ich gehe noch einmal auf den Spiegel zu. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht. Entschlossen schaue ich mein Spiegelbild an. Ich bin bereit. Ein Abschnitt in meinem Leben beginnt, den ich niemals leben wollte ... und auch niemals geplant hatte.
* * *
Mein Kopf lehnt an der Fensterscheibe des Autos. Die Landschaften, die Autos und all die Menschen da draußen ziehen nur so an mir vorbei. Alles sieht so verschwommen aus. Ich weiß genau, dass es das nicht ist, aber durch das schnelle Fahren wirkt es so. Ich habe das Gefühl, dass ich die Welt wie durch einen schwarz-weiß Filter sehe. Farben machen einige Dinge fröhlich. Doch gerade ist mir absolut nicht danach, fröhlich zu sein. Ich kann die Farben einfach nicht wahrnehmen. Die fröhlichen Farben. Die Welt wirkt trist und einfach. Und irgendwie traurig. Wir fahren durch die Stadt – und selbst das Lachen der Kinder, die auf den Straßen Fußball spielen, blende ich problemlos aus. Ich mache das wirklich nicht mit Absicht. Ich kann diesen schwarz-weiß Filter einfach nicht abstellen. Es geht nicht. Wir fahren gerade an eine Kreuzung heran, als meine Gedanken anfangen, abzudriften.
In welchen Situationen ist es okay, Schwäche zu zeigen?
Und was ist überhaupt Schwäche?
Im Duden stehen dazu verschiedene Definitionen. Nein, ich habe den Duden nicht auswendig gelernt. Ich weiß nur, dass es einige Definitionen von Schwäche gibt. Ich nehme stark an, dass diese auch im Duden zu finden sind.
Zum einen kann Schwäche eine fehlende körperliche Kraft sein. Eigentlich klar. Wenn der Körper nicht so funktioniert, wie man das möchte. Zum anderen wird das Wort Schwäche auch genutzt, wenn man etwas nicht kann und nicht beherrscht. Dann ist Schwäche wohl eher eine schlechte Eigenschaft des Menschen. Jedoch kann Schwäche auch bedeuten, dass man etwas oder jemanden sehr mag und somit eine große Neigung zu jemandem hat.
Tja, und was trifft bei mir zu? Irgendwie alles, aber irgendwie auch nichts. Ja, meinem Körper fehlt Kraft. Ich bin irgendwie geschwächt. Wahrscheinlich vor Trauer geschwächt. Oder vor Angst. Wenn man Angst hat, kann es auch sein, dass der Körper irgendwann den Geist aufgibt. Vielleicht nicht ganz, aber wenn man nicht mehr ganz klar denken kann, zittert und die Beine nachgeben, würde ich das schon als körperlich schwach bezeichnen. Auch die letzte Definition trifft bei mir irgendwie zu. Zumindest hat sie das einmal. Er war einmal meine Schwäche. Er war definitiv meine Schwäche.
Und jetzt? Jetzt bin ich schwach, weil er nicht mehr da ist.
Alle sagen, man soll stark sein und keine Schwäche zeigen. Aber wissen diese Personen eigentlich, wie verdammt schwer das sein kann? Wenn etwas passiert ist und du mit Trauer überschüttet bist? Ja, genau dann musst du stark sein, damit niemand merkt, wie schlecht es dir geht. Damit niemand nachfragt, was denn passiert ist. Denn jedes Mal, wenn jemand nachfragt, kommt alles wieder hoch und dir geht es direkt wieder schlecht. Aber ist das wirklich stark sein? Alles in sich hineinfressen und niemandem sein wahres Gesicht zeigen? Ist man dann stark? Vielleicht ist man ja gerade dann stark, wenn man es schafft, darüber zu reden, was einen bedrückt. Eigentlich ist man doch genau dann stark, wenn man damit umgehen kann. Wenn man zeigt, dass man nicht aufgibt und sich nicht davon unterbekommen lässt. Wenn man einen Grund hat, Schwäche zu zeigen und deprimiert im Zimmer zu sitzen, aber genau das eben nicht tut. Sondern aufsteht, den Blick nach vorne richtet und trotzdem weiter durch das Leben geht. Ja, genau das ist stark sein. Zumindest meiner Meinung nach. Und genau das versuche ich gerade, was mir aber leider sehr schwerfällt.
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