Die Sirene eines Krankenwagens reißt mich aus den Gedanken. Sie ist so laut! Viel zu laut! Ich halte das nicht aus! Schnell kneife ich meine Augen zusammen, doch durch die Dunkelheit sehe ich nur noch Bilder in meinem Kopf, die mich an letzte Nacht erinnern.
Ich renne immer schneller.
Meine Beine überschlagen sich fast.
Die Zeit scheint stillzustehen.
Ich breche zusammen.
Das rote Blut versinkt im weißen Schnee.
Die Sirenen werden immer lauter.
Ich muss mir die Ohren zuhalten, weil ich es nicht mehr aushalte.
Ich reiße meine Augen wieder auf.
„Wir sind da, Mäuschen“, sagt meine Mutter.
Ich hasse es, wenn sie mich Mäuschen nennt oder mir andere Kosenamen gibt, aber ich habe keine Lust – und vielleicht auch einfach keine Kraft –, etwas dazu zu sagen. Ich erinnere mich gut daran, wie sie mir, schon seit ich ein kleines Kind war, täglich neue Kosenamen gegeben hat. Ich hebe meinen Kopf von dem Autofenster und schaue zu ihr.
Sie versucht, ein Lächeln hervorzubringen, und legt ihre Hand auf meine Schulter. „Alles wird gut“, versichert sie mir. Sie macht die Autotür auf und steigt aus. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir wirklich da sind. Das Auto steht. Ich schaue nach vorne und das Erste, was mir auffällt, ist, dass das Gebäude aussieht wie ein großer, grauer Klotz. Kein wirklich netter Anblick. Aber zu meiner Stimmung passt es relativ gut. Ich sitze immer noch regungslos im Auto. Meine Mutter steht vor dem Auto und sieht zu dem grauen Klotz. Ihre Hände sind tief in den Jackentaschen versenkt. Es ist ein unbeschreiblich kalter Dezembertag.
Ich bin meiner Mutter wirklich dankbar, dass sie mir die Zeit gibt, die ich brauche. Ich habe unfassbar Angst, auszusteigen. Trotzdem schnalle ich mich ab und öffne langsam die Tür. Ich setzte vorsichtig meine Füße auf den Steinboden und atme noch einmal durch. Ich stehe auf und laufe zu meiner Mutter. Gemeinsam gehen wir Schritt für Schritt auf das Gebäude zu. Ich stehe in den Pumps sehr wackelig. Bei jedem Schritt hoffe ich, nicht umzuknicken. Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Mit jedem Schritt wird aber auch meine Angst größer. Und die Schmerzen in den Schuhen. Warum habe ich nur Schuhe mit Absatz angezogen? Wir betreten das Gebäude, aber vor meinen Augen verschwimmt schon wieder alles. Ich bekomme nicht mit, was meine Mutter zu der Frau sagt, die uns begrüßt. Ich stehe auch nicht neben meiner Mutter, sondern drei Schritte hinter ihr. Ich blicke die langen weißen Gänge entlang. Panik steigt in mir auf. Ich fühle mich wie benommen.
Wie er wohl aussieht? Was ist, wenn sein Anblick mich total erschlägt? Er war immer so fröhlich und lebensfreudig. Was passiert, wenn er jetzt einfach daliegt? Ohne etwas zu tun. Regungslos. Ich habe so Angst, ihn jetzt zu sehen. Meine Mutter kommt zu mir und sagt mir, dass wir mit dem Fahrstuhl zwei Etagen höher und dann den Gang rechts nehmen müssen. Seine Zimmernummer ist 237. Ich gebe mir Mühe, ihren Worten zu folgen. Als wir im Fahrstuhl stehen, wackeln meine Knie total. Ich versuche, gerade zu stehen, nicht zu schwanken. Das gelingt mir nur bedingt. Es stehen noch drei andere Personen im Aufzug. Eine Frau und ein Mann, die sich leise unterhalten. Ich kann nicht genau verstehen, worüber sie sprechen. Die Frau hat ihre Arme um einen kleinen Jungen geschlungen, der sich an ihr Bein klammert. Er schaut starr die Wand an. Ob sie auch trauern? Weshalb sind sie hier? Die Fragen erscheinen nur kurz in meinem Kopf. Meine Gedanken schweifen schnell wieder ab. Die Klingel des Aufzugs ertönt und holt mich wieder in die Gegenwart. Wir sind in Etage zwei angekommen.
Wir biegen nach rechts ab. Schon wieder ein langer, weißer Gang. Es stehen viele kleine Wagen hier herum und überall sieht man Menschen mit weißen Kitteln. Sie hetzen von links nach rechts und von rechts nach links. Sie kommen aus einem Raum und gehen sofort in den nächsten. Ab und zu holt eine Frau von dem Wagen, der vor der Tür steht, Medikamente und verschwindet anschließend sofort wieder im Raum. Nein, dieser Beruf wäre nichts für mich. Zu viel Stress. Zu viel Leid. Ich blicke nach oben. Die Lampen sind unglaublich hell. Typisch Krankenhaus.
Ich eile meiner Mutter nach, die schon ein paar Schritte voraus ist. Ganz am Ende des Gangs finden wir einen Raum mit einem Schild rechts neben der Tür, auf dem die Zahl 237 steht. Hier hetzen nicht mehr so viele Leute herum. Das gefällt mir schon besser. Meine Mutter öffnete die Tür und geht in das Zimmer. Es tut mir irgendwie leid, dass sie ihn in dem Zustand kennenlernen muss und nicht so, wie ich ihn kennenlernen durfte. Ich bleibe noch kurz vor dem Raum stehen. Gleich werde ich ihn sehen. Ich bin nur wenige Schritte von ihm entfernt. Doch er weiß nicht, dass ich hier bin. Er kann es nicht wissen, nicht sehen, nicht hören und auch nicht spüren. Er kann gar nichts mehr. Er kann nur daliegen.
Von wem ich die ganze Zeit rede? Von Kilian James Settler.
Der tollste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.
Der Mensch, dem ich eigentlich nur durch Zufall begegnet bin.
Der Mensch, der in mein Leben kam und von sich aus beschlossen hat, dass er bleiben möchte.
Der Mensch, der es so gut wie immer geschafft hat, mich zum Lachen zu bringen.
Der Mensch, der mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt hat.
Der Mensch, den ich niemals vergessen werde.
Der Mensch, dem ich mein Herz geschenkt habe und es keine einzige Sekunde bereue.
Der Mensch, der mich verändert hat, vor allem aber mein Leben.
Ja, der Mensch, der eine Zeit lang jede Sekunde mit mir verbracht hat und auf einmal nicht mehr da ist.
Ich zögere zwar kurz, aber gehe dann doch langsam in das Zimmer hinein. Ich bleibe an der Tür stehen und schaue mich erst einmal um. Wie wahrscheinlich jeder Raum hier ist es ein komplett weiß gestrichenes Zimmer. Mir gegenüber ist eine große Fensterwand, sodass viel Licht in das Zimmer fällt. Links an der Wand stehen ein kleiner Tisch und zwei Stühle.
Langsam richte ich meinen Blick in die Mitte des Zimmers. Ein großes Bett steht vor mir. Hätte ich nicht gewusst, dass Kilian darin liegt, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Unmengen an Schläuchen sind an ihm befestigt, die alle zu einem piependen Teil neben ihm führen. Ich zittere am ganzen Körper. Ich versuche, einen Schritt vorzugehen, um ihn genauer zu betrachten. Meine Knie fühlen sich an wie Wackelpudding. Ich habe Angst, dass sie gleich den Geist aufgeben und meine Beine mich nicht mehr halten können. Es ist ein Schock, ihn so zu sehen. So leblos. Jetzt stehe ich direkt neben ihm und kann seine Gesichtszüge sehen. Ich presse meine Hand vor meinen Mund und fange an, zu schluchzen. Tränen rollen über mein Gesicht. Das darf einfach nicht passiert sein. Wie konnte das nur passieren? Wieso er? Wieso er und nicht irgendjemand anderes? Hätte es nicht irgendjemand anderen treffen können? Meine Welt bricht zusammen. Zumindest habe ich das Gefühl, dass sie zusammenbricht. Ich schiebe meine Hände durch meine Haare. Wieso denn nur er?
Meine Mutter kommt auf mich zu und will mich umarmen, aber ich stoße sie weg.
„Wieso er? Wieso er und nicht irgendjemand anderes?“, schreie ich sie mit tränenerstickter Stimme an. Ich gehe ein paar Schritte zurück und stoße an eine Wand. Langsam lasse ich mich zu Boden gleiten. Ich halte meine Hände vor die Augen. Ich wusste von Anfang an, dass es schlimm werden würde, ihn zu sehen. Aber dass es so schlimm wird, hätte ich niemals gedacht.
Meine Mutter kommt langsam auf mich zu und streicht mir über den Kopf. „Du musst jetzt für ihn da sein. Er braucht dich“, sagt sie mit ruhiger Stimme. Dann geht sie aus dem Zimmer. Vielleicht holt sie sich einen Kaffee. Vielleicht versucht sie, auch einen Arzt zu finden, der ihr Kilians Lage erklären kann. Vielleicht braucht sie auch einfach nur frische Luft. Ich weiß es nicht.
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