1 ...8 9 10 12 13 14 ...46 "Nicht der Mann?" rief der Gentleman mit dem Feldstuhl in der Hand.
"Bestimmt nicht", entgegnete der kleine Doktor. "Das ist nicht die Person, die mich gestern nacht beleidigte."
"Höchst sonderbar!" rief der Offizier.
"Allerdings!" sagte der Gentleman mit dem Feldstuhl mit Autoritätsmiene und nahm eine Prise. "Die Frage ist nur, ob dieser Herr, da er auf dem Kampfplatze erschien, nicht formell als das Individuum betrachtet werden muß, das gestern nacht unsern Freund Dr. Slammer beleidigte, mag es nun dieselbe Person sein oder nicht."
Mr. Winkle hatte die Augen geöffnet und die Ohren dazu, als er seinen Gegner von Einstellung der Feindseligkeiten Sprechen hörte. Er begriff sofort, daß offenbar ein Mißverständnis vorlag und sein Ansehen ungemein steigen mußte, wenn er den wahren Grund seines Erscheinens auf dem Kampfplatz verschwieg. Er trat daher kühn vor und sprach:
"Nein, ich bin's nicht. Ich weiß es."
"Dann ist es eine Verhöhnung Dr. Slammers", sagte der i^Mann mit dem Feldstuhl. "Grund genug, in der Sache fortzufahren."
"Ich bitte, einen Augenblick, Payne", fiel ihm der Sekundant ins Wort. "Warum haben Sie mir das nicht heute morgen mitgeteilt, Sir?"
"Ja, ja, warum nicht – warum nicht?" wiederholte der Herr mit dem Feldstuhl unwillig.
"Ich bitte, lassen Sie mich machen, Payne", mischte sich der Offizier ein. "Muß ich meine Frage wiederholen, Sir?"
"Weil Sie, mein Herr", entgegnete Mr. Winkle, der inzwischen Zeit gehabt hatte, über eine passende Antwort nachzudenken, "weil Sie, mein Herr, eine betrunkene und allen Anstandes bare Person als den Träger eines Rockes bezeichneten, den ich nicht allein zu tragen, sondern sogar erfunden zu haben, die Ehre habe – der einstimmig angenommenen Uniform des Pickwick-Klubs in London, Sir. Ich fühlte mich verpflichtet, die Ehre dieser Uniform zu verfechten, und aus keinem ändern Grunde, Sir, habe ich die Forderung ohne weitere Nachforschung angenommen."
"Mein werter Herr", rief der gutmütige kleine Doktor und trat mit ausgestreckter Hand heran, "ich ehre Ihren ritterlichen Mut. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Benehmen höchlich bewundere und außerordentlich bedauere, Sie für nichts und wieder nichts 'hierherbemüht zu haben."
"Ich bitte, sprechen Sie nicht davon", lehnte Mr. Winkle bescheiden ab.
"Ich bin stolz darauf, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir", versicherte der kleine Doktor.
"Auch mir gewährt es das größte Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben", entgegnete Mr. Winkle.
Der Doktor und Mr. Winkle reichten sich die Hände; ein Gleiches taten dann Mr. Winkle und Leutnant Tappleton, der Sekundant des Doktors, dann Mr. Winkle und der Herr mit dem Feldstuhl, und endlich Mr. Winkle und Mr. Snodgraß; letzterer ganz hingerissen von Bewunderung über das ritterliche Benehmen seines heldenmütigen Freundes.
"Ich dächte, wir könnten jetzt nach Hause gehen", meinte Leutnant Tappleton.
"Gewiß", erklärte der Doktor.
"Wenn nicht etwa", fügte der Herr mit dem Feldstuhl bei, "wenn nicht etwa Mr. Winkle sich durch die Forderung beleidigt fühlt, in welchem Falle er natürlich das Recht hat, Satisfaktion zu verlangen."
Mr. Winkle erklärte mit großer Selbstverleugnung, daß die Genugtuung, die er bereits bekommen hatte, hinreichte.
"Vielleicht fühlt sich aber der Sekundant des Gentleman durch gewisse Bemerkungen, die ich anfänglich fallenließ, verletzt", fuhr der Herr mit dem Feldstuhl fort. "Wäre dies der Fall, so würde ich mich glücklich schätzen, ihm auf der Stelle Satisfaktion zu geben."
Mr. Snodgraß äußerte sogleich, er wäre dem Herrn für sein liebenswürdiges Anerbieten sehr verbunden, sähe sich jedoch veranlaßt, abzulehnen, da ihn der Verlauf der Sache ungemein befriedigte. Die beiden Sekundanten schlössen ihre Waffenfutterale, und alle verließen den Kampfplatz fröhlicher, als sie gekommen waren.
"Bleiben Sie lange hier?" fragte Dr. Slammer Mr. Winkle, als sie freundschaftlich nebeneinander gingen.
"Ich denke, wir werden übermorgen wieder abreisen."
"Dann hoffe ich wenigstens das Vergnügen zu haben, Sie und Ihren Freund bei mir zu sehen, um gemeinsam nach diesem widerwärtigen Mißverständnis noch einen heitern Abend zu verbringen. Sie sind doch nicht für heute vergeben?"
"Wir haben noch einige Freunde hier", wendete Mr. Winkle ein, "von denen wir uns ungern trennen möchten. Aber vielleicht besuchen Sie und Ihre Kameraden uns im ,Ochsen'?"
"Mit größtem Vergnügen", entgegnete der kleine Doktor. "Würde zehn Uhr zu spät sein, um noch ein halbes Stündchen bei Ihnen zu plaudern?"
"Oh, gewiß nicht. Ich werde mich glücklich schätzen, Sie meinen Freunden Mr. Pickwick und Mr. Tupman vorzustellen."
"Wird mir eine große Ehre sein", meinte Dr. Slammer, der sich nicht träumen ließ, wer wohl Mr. Tupman wäre.
"Wir dürfen also auf Sie zählen?" fragte Mr. Snodgraß.
"Gewiß."
Sie hatten inzwischen die Landstraße wieder erreicht, nahmen herzlichen Abschied voneinander und trennten sich. Dr. Slammer begab sich mit seinen Freunden nach der Kaserne, und Mr. Winkle kehrte, von Mr. Snodgraß begleitet, in den Gasthof zurück.
Drittes Kapitel: Eine neue Bekanntschaft. Die Erzählung des wandernden Schauspielers. Eine unangenehme Störung und ein unerfreuliches Zusammentreffen.
Mr. Pickwick war in Sorgen wegen des ungewöhnlich langen Ausbleibens seiner zwei Freunde, und ihr geheimnisvolles Benehmen während des ganzen Morgens trug keineswegs dazu bei, sie zu vermindern. Um so größer war seine Freude, als er sie wieder ins Zimmer treten sah; und nun ging es an ein Fragen, was ihn so lange ihrer Gesellschaft beraubt hatte. Mr. Snodgraß schickte sich eben an, eine getreue, umständliche Erzählung der Begebnisse des Tages zu beginnen, als er plötzlich innehielt, weil er bemerkte, daß außer Mr. Tupman auch noch ihr Reisegefährte von gestern und ein zweiter Fremder von gleich wunderlichem äußern zugegen waren – ein Mann, dessen fahles Gesicht und eingesunkene Augen von Leid und Kummer erzählten, während das straffe schwarze Haar, das ihm wirr über die Stirne herunterhing, die von Natur schon genug markierten Züge nur noch auffallender erscheinen ließen. Seine stechenden Augen hatten einen fast unnatürlichen Glanz, seine Backenknochen traten stark hervor, und sein Unterkiefer war so lang und hager, daß man hätte glauben können, seine Wangen waren für einen Augenblick verkrampft und eingesaugt, wenn nicht der halb geöffnete Mund und der unbewegliche Ausdruck bewiesen hätten, daß der Mann sich nicht verstellte. Um den Hals trug er einen grünen Schal geschlungen, dessen breite Enden über die Brust herunterhingen und sogar noch durch die Knopflöcher seiner alten Weste hervorsahen. Außerdem trug er einen langen schwarzen Überrock, weite braune Beinkleider, und große schadhafte Stiefel.
Mr. Winkles Blick haftete noch auf dieser nicht sehr einladenden Erscheinung, als Mr. Pickwick mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging und ihm den Fremden mit den Worten "Ein Freund unsres Freundes hier" vorstellte.
"Wir haben diesen Morgen in Erfahrung gebracht", fuhr er fort, "daß unser Freund mit dem hiesigen Theater in Verbindung steht, obgleich er nicht wünscht, daß es allgemein bekannt werde, und gegenwärtiger Herr ist gleichfalls Schauspieler. Er war eben im Begriff, uns mit einer kleinen Erzählung zu erfreuen, als Sie eintraten."
"Ein wahres Anekdotenbuch", erklärte der Grünrock von gestern in leisem, vertraulichem Ton zu Mr. Winkle. "Possierlicher Bursche – bloß Statist – kein eigentlicher Schauspieler – wunderlicher Mensch – Unglück aller Art gehabt – allgemein unter dem Namen ,der Trübsal-Jemmy' bekannt."
Mr. Winkle und Mr. Snodgraß bewillkommneten den ihnen als "Trübsal-Jemmy" bezeichneten Herrn höflich, bestellten Brandy mit Wasser, um es der übrigen Gesellschaft gleichzutun, und setzten sich an den Tisch.
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