Für Matthews Steißbein war es eine große Wohltat, als sie endlich auch diese letzte halbe Meile hinter sich gebracht hatten. Die Seitenstraße führte sie durch ein kleines Wäldchen zu drei Gebäuden. Das erste, aus Holz gebaut und mit geweißten Wänden, stand neben einem Brunnen und war so groß wie ein normales Haus. Ein Pferdetrog und Anbindebalken standen davor und an einem Nagel neben der Haustür hing eine brennende Laterne. Das zweite Haus war wesentlich größer als das erste, mit dem es durch einen gut ausgetretenen Pfad verbunden war. Es war aus grob behauenen Steinen gebaut worden. Aus dem spitzen Dach ragten zwei Schornsteine und mehrere der Fensterläden waren geschlossen. Matthew nahm an, dass dort die Patienten untergebracht waren – obwohl das Gebäude aussah, als wäre es ursprünglich als Getreidelager oder Versammlungshaus gebaut worden. Er fragte sich, ob es hier vor Westerwickes Entstehung ein Dorf gegeben hatte, dessen Einwohner einem Fieber oder anderem Unglück erlegen waren, und ob es sich hier um die Überreste davon handelte – vielleicht gab es ja noch ein paar Ruinen im Wald.
Das dritte Haus lag fünfzehn oder zwanzig Meter hinter dem Steingebäude, war etwas größer als das erste und ebenfalls weiß gestrichen. Matthew fiel auf, dass auch dort zwei der Fensterläden geschlossen waren. Ein Blumengarten mit Statuen und zwischen Büschen aufgestellten Bänken war unweit angelegt worden. Ein Weg führte nach hinten zu einem Stall und mehreren kleineren Gebäuden. Es war ganz anders als der traurige und chaotische Ort, den Matthew sich vorgestellt hatte. In den Bäumen sangen die Vögel ihr Nachmittagslied, das Tageslicht verdunkelte sich zu blau und die Atmosphäre des Hospitals und des gesamten Grundstücks war ungleich friedlicher als die Szenen schrecklicher Verrücktheit in den Londoner Tollhäusern, über die Matthew in der Gazette gelesen hatte. Trotzdem entdeckte er Gitter an einigen der offenen Fenster des Steingebäudes, durch die jetzt ein paar weiße Gesichter spähten. Hände erschienen, um die Gitter zu umklammern, aber die Musterung der Besucher fand schweigend statt.
Greathouse stieg ab und band sein Pferd am Balken an. Noch während Matthew es ihm gleichtat, öffnete sich die Haustür des Steingebäudes, und ein grau gekleideter Mann trat heraus. Er blieb kurz stehen und machte sich an der Tür zu schaffen – Matthew nahm an, dass er sie abschloss – und erschreckte sich, als er die Besucher bemerkte. Grüßend hob er die Hand und schritt schnell auf sie zu.
»Zum Gruße!«, rief Greathouse. »Seid Ihr Dr. Ramsendell?«
Der Mann kam weiter auf sie zu. Mit schiefem Grinsen hielt er eine Armlänge vor Matthew abrupt an und begann stockend zu reden. »Jacob ist mein Name. Seid Ihr gekommen, um mich heimzubringen?«
Matthew schätzte den Mann auf nur fünf oder sechs Jahre älter als sich selbst, auch wenn das wegen seines von einem entbehrungsreichen Leben sehr faltigem Gesicht schwer zu sagen war. Auf der rechten Wange des Mannes prangte eine alte gezackte Narbe, die sich bis über eine eingedellte Stelle an seinem Kopf hinzog, auf der keine Haare mehr wuchsen. Seine Augen strahlten glasig und sein unbewegliches Grinsen hatte etwas Abstoßendes und doch Bemitleidenswertes an sich.
»Mein Name ist Jacob«, sagte er wieder auf genau die gleiche Art wie zuvor. »Seid Ihr gekommen, um mich heimzubringen?«
»Nein.« Greathouses Stimme klang fest, aber vorsichtig. »Wir sind gekommen, um mit Dr. Ramsendell zu sprechen.«
An Jacobs Grinsen veränderte sich nichts. Er streckte die Hand aus. Bevor Matthew zurückweichen konnte, berührte er die Narbe an dessen Stirn. »Seid Ihr verrückt wie ich?«, fragte er.
»Jacob! Lass den Gentlemen doch bitte etwas mehr Platz.« Die Tür des ersten Gebäudes hatte sich geöffnet und zwei Männer kamen heraus, die beide in dunkle Kniehosen und weiße Hemden gekleidet waren. Jacob wich sofort zwei Schritte zurück, starrte aber weiterhin Matthew an. Der Mann, der gesprochen hatte, war groß und schlank mit rotbraunem Haar und einem sauber gestutzten Bart. Er trug eine beigefarbene Weste. »Ich habe meinen Namen gehört. Was kann ich für die Gentlemen tun?«, fragte er.
»Ich glaube, der hier ist verrückt.« Jacob zeigte auf Matthew. »Jemand hat ihm den Kopf kaputtgemacht.«
Mit einem Seitenblick auf den offensichtlich hier wohnenden Jacob, um sicherzugehen, dass er sich ihm nicht näherte, sagte Greathouse: »Ich bin Hudson Greathouse und dies ist Matthew Corbett. Wir sind von der Herrald Vertretung aus New York gekommen, um …«
»Wunderbar!«, sagte der bärtige Mann erfreut. Er warf seinem grauhaarigen Begleiter, der kleiner und dicker war und auf der Hakennase eine Brille trug, einen Blick zu. »Ich habe Euch doch gesagt, dass sie kommen werden! Ihr habt stets zu viele Zweifel!«
»Ich sehe mich korrigiert und gerügt«, sagte der Mann zu Greathouse und Matthew. »Und auch sehr von der Geschwindigkeit beeindruckt, mit der Ihr auf diese Angelegenheit reagiert habt, Gentlemen.«
»Ich war heute in New York«, warf Jacob ein. »Ich bin auf einem Vogel hingeflogen.«
»Entschuldigt meine schlechten Manieren.« Der Bärtige streckte erst Greathouse und dann Matthew seine Hand hin. »Ich bin Dr. Ramsendell, und dies ist Dr. Curtis Hulzen. Danke, dass Ihr gekommen seid, Gentlemen. Ich kann Euch gar nicht genug danken. Ich weiß, dass Ihr eine lange Reise hinter Euch habt. Darf ich Euch zu einer Tasse Tee in mein Arbeitszimmer einladen?«
Greathouse zeigte ihm den Briefumschlag. »Ich würde gern mehr hierüber wissen.«
»Aha. Ja, der Brief. Ich habe ihn gestern im Dock House Inn abgegeben. Kommt, lasst uns im Arbeitszimmer reden.« Ramsendell gestikulierte in Richtung Tür. Matthew war sich nur zu bewusst, dass Jacob ihm folgte und fast auf die Hacken trat.
»Ich saß auf einem Vogel«, sagte Jacob an niemanden gewandt. »Dick und glänzend war der und hat Leute in seinem Magen verschluckt.«
»Jacob?« Ramsendell blieb an der Tür stehen. Er sprach freundlich mit dem kranken Mann, so wie mit einem launischen Kind. »Die Gentlemen, Dr. Hulzen und ich haben etwas Wichtiges zu besprechen. Ich möchte gern, dass du deine Arbeit erledigst.«
»Ich habe schlimme Träume«, sagte Jacob.
»Ja, das weiß ich. Nun geh. Je früher du fertig bist, desto früher kannst du essen.«
»Ihr werdet über die Königin reden.«
»Das stimmt. Und nun geh. Von allein faltet sich die Wäsche nicht.«
Jacob schien darüber nachzudenken, nickte dann und grunzte. Er drehte sich um und ging an dem Steinhaus vorbei auf den Weg zu, der zu den anderen kleinen Gebäuden führte.
»Vor drei Jahren war er Vorarbeiter bei der Sägemühle am Fluss«, erklärte Ramsendell leise, als Matthew und Greathouse Jacob nachschauten. »Er hat eine Frau und zwei Kinder gehabt. Ein fahrlässiger Unfall – er hat ihn übrigens nicht verursacht –, und seine Verletzung hat ihn zu einer zweiten Kindheit reduziert. Er macht Fortschritte und übernimmt für kleinere Arbeiten auch die Verantwortung, aber da draußen wird er nie mehr leben können.«
Da draußen. Matthew fand, dass er gesprochen hatte, als sei nicht dieses Tollhaus ein beängstigender Ort, sondern der Rest der Welt.
»Bitte, tretet ein.« Ramsendell hielt ihnen die Tür des Arbeitszimmers auf.
Der Raum hätte auch die Amtsstube eines Richters in New York sein können. Zwei Schreibtische standen darin, dazu ein größerer Tisch mit sechs Stühlen für Beratungen, ein Aktenschrank und Regale voller Bücher. Ein einfacher dunkelgrüner Webteppich zierte die Fußbodenbretter. Hinten im Zimmer stand eine zweite Tür offen, durch die Matthew etwas sehen konnte, das wie ein Untersuchungstisch sowie ein Schrank aussah, in dem er Arzneien oder medizinische Instrumente vermutete. Ihm fiel dort eine Bewegung auf. Er sah eine grau gekleidete Frau mit langen schwarzen Haaren, die mit einem blauen Tuch Glasfläschchen abwischte. Sie schien zu spüren, dass jemand sie ansah, denn sie drehte den Kopf. Für ein paar Sekunden betrachtete sie Matthew mit ausdruckslosen, eingesunkenen Augen. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit, als gäbe es keine Menschen auf der Welt und keine wichtigere Aufgabe.
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