Ich nickte und sah zu Ma, die Travis anlächelte. »Alles in Ordnung, Ma?«, fragte ich.
Sie sah immer noch müde aus, sah mich aber mit einem sanften Lächeln an, als sie sich an den Tisch setzte. »Mir geht's gut«, sagte sie. »Ich mache mir nur Sorgen, wenn du dir Sorgen machst, das ist alles.«
Ich nahm einen Stuhl, stützte aber nur das Knie darauf, anstatt mich zu setzen und zog den ersten Karton zu mir. Ohne darum gebeten worden zu sein, stellte Travis eine Tasse Tee vor Ma und beide warteten darauf, dass ich den Karton öffnete.
Ich weiß nicht, was ich erwartete. Vielleicht Briefe, Dokumente, vielleicht sogar finanzielle Unterlagen, die wir nicht gefunden haben, als wir sein Zimmer ausgeräumt hatten.
Was ich fand, brachte mich zum Lächeln und ließ mich gleichzeitig die Stirn runzeln.
Ich griff in den Karton und zog den ersten Gegenstand hervor. Es war ein Teddybär. Alt, ausgebleicht, ein wenig abgenutzt und er sah aus, als wäre er in den Schlamm gefallen. Ich erkannte ihn nicht.
»Oh, der hat dir gehört«, sagte Ma leise. »Bis du etwa drei warst, hast du ihn überall mit hingeschleppt.«
»Ich erinnere mich nicht«, sagte ich und legte ihn auf den Tisch.
Ma nahm den Bären und betrachtete ihn. »Dein Vater hat ihn dir nach deinem dritten Geburtstag weggenommen. Meinte, du wärst zu alt, um ein Stofftier mit dir rumzutragen.«
Ich zuckte mit den Schultern. Das überraschte mich nicht. Kein bisschen.
»Also daran erinnere ich mich«, sagte ich und nahm einen aufgesägten Gips heraus. Er war vom Dreck ganz braun, ausgefranst und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Mein erster gebrochener Arm«, sagte ich lachend. »Erinnerst du dich, Ma? Ich bin von meinem Motorrad gefallen.«
Ma sah mich finster an. »Natürlich erinnere ich mich. Wie könnte ich das vergessen?«
Travis nahm den Gips und betrachtete ihn. »Das ist widerlich. Kommt das vom Alter oder hast du ihn so zugerichtet?«
Ma schnaubte. »Er hat ihn im Schlamm, im Dreck und im Fluss getragen. Dann hat sein Vater ihm das Ding hier abgenommen, weil es so fürchterlich gestunken hat.«
Ich schnaubte. »Ja, er hat wie ein überfahrenes Tier gerochen.«
Travis betrachtete die ausgefranste Öffnung, die sich über die ganze Länge des Gipses zog. »Dein Dad hat ihn aufgeschnitten?«
»Ja, mit einer Schurschere.«
»Gütiger Gott«, murmelte Travis.
Ich lachte über seinen Ausdruck. »Und sieh mal, hier ist der Gasgriff des Motorrads, das ich gefahren habe, als ich gestürzt bin«, sagte ich und nahm den Motorradgriff heraus, der auf meine Peewee 50 gehört hatte. Er war schwarz und das Gummi mittlerweile abgewetzt und brüchig. Es war ein ungewöhnliches Andenken. »Warum zur Hölle hat er das aufgehoben?«
»Weil es dein erstes Bike war«, sagte Ma schulterzuckend. »Und du hast es geliebt.«
Ich dachte darüber nach, was es bedeutete. Mein Vater hatte diese Dinge nicht wirklich für sich selbst aufgehoben. Er hatte es für mich getan.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Anschließend nahm ich weitere Dinge heraus, angefangen bei einem kleinen Glas mit meinem ersten Zahn, meinen ersten Babyschuhen bis hin zu einem alten Bunnykins-Teller und einem dazu passenden Plastikbecher, der nun gesprungen war.
Auf dem Boden des Kartons befanden sich Bücher: ein Sammel-, ein Baby- und ein Fotoalbum. Ich nahm sie heraus und legte sie zur Seite, ehe ich nach den letzten Sachen in dem Karton griff. Es waren einige laminierte Zertifikate aus meinen Homeschooling-Tagen und eine Plastiktüte mit gefalteten Zeitungen.
Ich stellte die erste leere Kiste auf den Boden und betrachtete all die Dinge, die den Tisch bedeckten. Meine Kindheitserinnerungen. Es war schockierend und wundervoll, dass mein Vater diese Dinge aufbewahrt hatte. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Da ich immer noch zu durcheinander war, um sie in Worte zu fassen, seufzte ich stattdessen.
Aber ich lächelte.
»Wow«, sagte ich schließlich und setzte mich. »Ich hatte keine Ahnung.«
Travis zerzauste meine Haare und drückte mir einen Kuss auf den Kopf, ehe er sich neben mich setzte. Er schien kurz davor zu sein zu platzen. Ob es vor Erleichterung oder Freude für mich war, wagte ich nicht zu sagen. Es war egal.
Zuerst nahm ich das Babyalbum. Es war blau, klein und durch das Alter gelb geworden. Ich öffnete die erste Seite, auf der in einer schönen Handschrift, die ich nicht erkannte, mein voller Name, mein Geburtsdatum, Gewicht, Größe und Haarfarbe standen. Außerdem klebte da ein kleines Bild eines weinenden Babys. Vermutlich war ich es.
»Du hast dich nicht verändert«, scherzte Travis.
Ich konnte nur lachen. Auf der nächsten Seite befanden sich Daten mit Gewicht, Größe und Meilensteinen. Anscheinend hatte ich meinen ersten Zahn mit sieben Monaten bekommen. Und es war sehr deutlich, sogar unterstrichen und so, dass ich Haferbrei nicht mochte.
Ma lachte schnaubend. »Also das hat sich nicht geändert.«
Ich lachte mit ihr, aber als ich die nächste Seite aufschlug, verging mir das Lachen.
Da war ich, vielleicht zwei Jahre alt und saß auf dem Knie meines Vaters. Er lachte über etwas, sein Gesicht leuchtete und er sah jemanden oder etwas an, das auf dem Bild nicht zu erkennen war.
Er sah so viel jünger aus als der Mann, an den ich mich erinnerte. Auch glücklicher. Er sah so glücklich aus. Unsere Kleidung war ein Hinweis auf die Zeit – die späten Achtziger – und das Foto selbst war ein vom Alter vergilbtes Polaroid.
Travis' Hand auf meinem Knie zwang mich, ihn anzusehen. »Geht's dir gut?«
Ich nickte. »Ja.« Und das stimmte. Das war nicht, was ich erwartet hatte: Diese Dinge aus meiner Kindheit und eine Erinnerung daran zu finden, dass mein Vater nicht immer so wütend gewesen war. Ich richtete meinen Blick wieder auf das Foto und strich gedankenverloren mit dem Finger darüber. »Er sieht so glücklich aus.«
Ich konnte Mas Blick auf mir spüren und als ich aufsah, musterte sie mich eine Weile lang. »Er war glücklich, Liebling.«
»Ich muss ihn wohl anders in Erinnerung haben«, murmelte ich.
Ma seufzte. »Er war nicht immer so…« Es schien ihr schwerzufallen, das richtige Wort zu finden.
»Wütend?«, schlug ich vor. »Verbittert?«
»Einsam«, beendete sie ihren Satz.
Darauf hatte ich keine Antwort. Stattdessen ließ ich es auf mich sinken, wie eine schwere Decke der Reue. »Ich war zu beschäftigt damit, ein Stinkstiefel zu sein, um es zu sehen«, gestand ich.
Ma lächelte mich warm an. »Du warst ein Teenager, Liebling. Man kann dir nicht die Schuld geben, es nicht gesehen zu haben, vor allem, wenn er Dinge sagte, die er nicht so gemeint hat.« Sie seufzte und sah so müde aus, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Er war ein guter Mann, Charlie, bis zu dem Tag, an dem deine Mutter gegangen ist. Danach war er nicht mehr derselbe. Zu stolz, glaube ich, um zuzugeben, dass er sich wünschte, die Dinge wären anders.«
Danach war es still und ich drehte die nächste Seite um. Es gab Abrissspuren, wo einst ein Foto gewesen war, das später herausgerissen worden war. Genau wie auf der nächsten und übernächsten Seite.
Ich nahm an, dass sie von meiner Mutter waren.
Der letzte Eintrag war ein Bild von mir. Ich war vielleicht vier Jahre alt, hielt einen Fisch, der halb so groß war wie ich und trug zu große Reitstiefel. Ich grinste wie das glücklichste Kind der Welt. Ein Kind, das nicht wusste, dass sich seine Welt für immer verändern würde.
Trav legte mir eine Hand in den Nacken und beugte sich vor, aber nicht, um sich das Bild anzusehen, sondern um mir näher zu sein. »Erinnerst du dich daran?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Dann betrachtete ich erneut das Foto. »Aber ich glaube, ich erinnere mich an die Stiefel.«
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