Unter dem Arm trug Kalle einen dicken Stapel mit Zeitungen und Prospekten. Da er bei seiner Flucht den Karton mit den Papieren im Hartmann-Park hatte zurücklassen müssen, hatte er unterwegs einen Stapel kostenloser Werbezeitungen und Broschüren aus dem vor einem Haus abgestellten Wagen eines Verteilers genommen. Hatte Kalle anfänglich noch geplant, nur damit zu drohen, den Karton mit den Papieren anzuzünden, wenn man ihm nicht umgehend und zuerst das Geld aushändigte, so mußte er die Papiere nun auf jeden Fall anzünden, damit der Betrug nicht aufflog. Das war ihm selbst unangenehm. Aber es ging nun mal nicht anders.
Das ehemalige Hausmeisterhäuschen lag ungewöhnlich still da. Die Läden waren geschlossen, und nur im Schlafzimmer brannte ein Licht. Kalle hastete vorbei, lief zwischen den beiden Fabrikteilen hindurch und kletterte von hinten durch eines der eingeschlagenen Fenster in die Lagerhalle. Hier war es stockdunkel. Er legte den Stapel mit Zeitungen ab, holte die Streichhölzer aus der Tasche und zündete einige an. Zum Glück lagen hier genug alte Kartons herum. Er nahm einen und legte die Zeitungen hinein. Draußen huschten Schatten am Gebäude vorbei, aber das bildete er sich bestimmt nur ein. Das Streichholz erlosch. Er tastete sich zu der Leiter, die an das offene Stück Dachboden gelehnt war und stieg hinauf. Das war gar nicht leicht, denn er mußte den Karton immer vor sich herschieben. Oben war es etwas heller, weil das Mondlicht durch die Dachluke fiel.
Kalle zog die Leiter hoch und machte sicherheitshalber schon jetzt das Dachfenster auf. Draußen war alles ruhig. Seinetwegen könnte es jetzt losgehen. Doch es rührte sich nichts. Da man Kalle auch die Uhr geklaut hatte, war er sich über die Uhrzeit nicht ganz im Klaren. Hoffentlich war es nicht schon nach neun. Zweifel plagten ihn. Und außerdem mußte er unbedingt noch ausprobieren, ob sich die Kiste leicht genug in Brand setzen ließ. Am besten versuchte er es erst einmal mit einem Stück Zeitung. Er riß ein Blatt ab, rollte es zusammen und zündete es an. Im selben Augenblick ging unten in der Halle unter großem Quietschen und Ächzen die Tür auf und eine dunkle Gestalt trat mit festem Schritt herein. Kalle ließ vor Schreck die brennende Zeitung fallen. Trug die Gestalt einen Koffer? Es war einfach nicht zu erkennen.
„Los! Schnell! Beeilung! Werfen Sie das Geld hoch! Sonst brennen Ihre Papiere ab!“ Das angezündete Papier war in den Karton gefallen, schien aber dort gerade auszugehen.
„Ich muß erst sicher gehen, daß es sich tatsächlich um die richtigen Papiere handelt“, sagte die Stimme von unten.
„Nein! Nein! Dafür haben wir keine Zeit! Geld her! Los! Das Geld her! Verstehst du nicht!“ Wie um Kalles Worte zu unterstreichen, züngelte mit einem Mal eine Stichflamme aus dem Karton mit den Zeitungen. „Hier! Du siehst, ich mach’ Ernst! Los! Wirf das Geld hoch!“ Das Licht der hochschlagenden Flammen nahm Kalle die Sicht. War der Mann da unten überhaupt noch da?
„Hallo? Los! Das Geld! Ich spaße nicht! Kapier das doch!“ schrie er noch einmal. Der Karton brannte nun lichterloh. Kalle lief in Richtung Luke, aber dort stand inzwischen schon ein Allwell-Wachmann. Ein weiterer kletterte gerade nach. Von unten wurde eine Leiter angelegt und drei ehemalige Kollegen von Kalle kamen nach oben, um ihn unsanft zu Boden zu werfen. Mit einem Feuerlöscher wurden die Flammen erstickt.
Hugo Rhäs verzichtete auf eine Anzeige. Als ihm die Allwell-Männer eine Viertelstunde später in einer alten Blechschachtel die eingeäscherten Reste seiner Radix-Theorie brachten, bewies er Größe und betrachtete das ganze als ein tiefgründiges Symbol. Der in Handschellen gelegte Kalle stand mit gebeugtem Kopf zwischen ihnen.
„Wir möchten uns im Namen unserer Firma in aller Form bei Ihnen entschuldigen, Herr Doktor Rhäs“, sagte einer der Männer. „Es handelt sich bei diesem Subjekt, das möchte ich betonen, um eine Vertretung, die unerklärlicherweise durch das Netz unserer strengen Persönlichkeitsprofile gerutscht ist. Ich weiß, daß dies keine Entschuldigung ist, und schon gar kein Ersatz für den Ihnen entstandenen Schaden, dennoch garantieren wir Ihnen in Zukunft eine sorgfältige Bewachung und zwar Tag und Nacht.“
Man war bei Allwell froh, daß Hugo Rhäs nicht auch noch die Polizei einschalten wollte. Die ganzen Nachforschungen hätten nur Unruhe in den Betriebsablauf gebracht. Und wie sollte man den Behörden gegenüber einen solchen Mitarbeiter rechtfertigen?
Da Allwell selbst auch nichts weiter gegen Kalle unternehmen konnte und wollte, hielt man ihn noch die Nacht über in einer Art inszeniertem Verhör fest. Gegen Morgen mußte er einen Schuldschein über fünftausend Mark wegen erlittenen materiellen Schadens – Lederjacke, Stablampe, Allwellstern und so weiter – und Schmerzensgeld wegen Rufschädigung unterschreiben. Dann wurde er in einem billigen Plastikregenmantel in den Morgen entlassen. Hose und Hemd waren schließlich auch Eigentum der Firma. Wenigstens hatte Kalle schon gleich zu Beginn seiner Anstellung ein paar Briefbögen mitgehen lassen, so daß er sich das ihm verweigerte Zeugnis selbst ausstellen konnte.
Während er nach Hause irrte, befanden sich die ersten Kinder auf dem Weg zur Schule. Eine kleine Gruppe lief durch den Hartmann Park, und da sie noch Zeit hatten, spielten sie hinter dem Europa-Denkmal Verstecken. In einem Gebüsch stieß ein Junge auf einen Karton mit Papieren. Die Kinder beschlossen, ihren Fund mit in die Schule zu nehmen. In der ersten Stunde hatten sie Musik. Die Lehrerin Frau Helfrich sah sofort, daß es sich bei den Papieren um unbrauchbare Notizen handelte, die jemand weggeworfen hatte. Sie ließ den Karton zu Frau Vesa bringen. Frau Vesa war eine junge Referendarin aus Finnland, die in der Unterstufe Kunst unterrichtete. Sie konnte die Papiere gut gebrauchen, da sie mit einer Klasse gerade Rasseln herstellte. Die Kinder nahmen alte Glühbirnen und umwickelten sie mit mehreren Schichten leimgetränktem Papier. Das ganze ließen sie einige Stunden trocknen. Wenn man dann die so beklebten Glühbirnen anschließend auf eine Tischkante schlug, blieb die mittlerweile feste Hülle aus Pappmaché ganz, während innen das Glas der Birne zerbrach und die Splitter das Geräusch einer Rassel erzeugten.
Der Grund, warum sich Siegfried Rhäs schon nach zweieinhalb Jahren Ehe wieder von seiner Frau Klara hatte scheiden lassen, und das, obwohl sie einen kleinen Sohn namens Hugo besaßen, ein gesundes Kind mit allen Knochen, war so heikel, daß Hugo Rhäs ihn erst erfuhr, als er die dreißig schon weit überschritten hatte.
Siegfried Rhäs, ein Mann mit einer naiven aber gut gesinnten Frömmigkeit, hatte Klara kurz nach ihrer unglücklichen Niederkunft und der Trennung von ihrem ersten Mann, Samuel Howardt, kennengelernt. Mit seiner sanften und einfühlenden Art verstand er es, der gebrochenen Klara ihren Lebensmut zurückzugeben, so daß sie sich schon bald wieder in der Lage fühlte, erneut eine Ehe einzugehen und eine Familie mit ihm zu gründen. Siegfried Rhäs war Berufsschullehrer und sie besaßen ihr geregeltes Auskommen. Das Kind, das ein gutes Jahr nach ihrer Heirat zur Welt kam, war gesund und wuchs prächtig heran. Die Ehegatten liebten sich, und es hätte gar nicht besser sein können, bis…, ja bis sich an einem Montag im August 1954 mit einem Mal alles änderte.
An diesem Montag erschien nämlich die Illustrierte Bonbonniere. Es handelte sich dabei um ein Boulevardblatt von mehr als zweifelhaftem Ruf, welches einen Spagat zwischen Berichterstattung aus den internationalen Königshäusern einerseits und verbrämten Erotikdarstellungen der frühen fünfziger Jahre andererseits versuchte. Unter der Überschrift: „O là là, die Fräuleins von der Front“ brachte man an diesem Augustmontag eine Bildreportage über Pinup-Mädchen, deren Bilder unter den vom Volk nicht vergessenen deutschen Soldaten des letzten Krieges kursiert waren. Darunter auch ein Bild von Klara Rhäs.
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