Bei dieser fehlenden Rückmeldung spielt ein wichtiger und bis weit in die siebziger Jahre unterschätzter Sinn des Menschen eine Rolle, jener Körpersinn nämlich, der über das zentrale Nervensystem beständig Größe, Haltung, Gewicht etc. des Körpers mißt und diese Messungen an das Gehirn weitergibt. Das Gehirn der von dem massiven Knochenschwund Befallenen erhielt nun zwei in sich widersprüchliche Signale. Zum einen meldeten Nerven und Blutgefäße die Existenz eines Skeletts, das sie versorgten – es handelte sich dabei um den im Körper ausgesparten Hohlraum –, auf der anderen Seite gab der Körpersinn, der vor allem über die Muskulatur gereizt wird, das Fehlen eben jenes Skeletts weiter. Beide Informationen können jedoch nicht nebeneinander bestehen. Bei einer solchen Unstimmigkeit setzt sich die in der evolutionären Entwicklung wichtigere Information durch, in diesem Fall die des Körpersinns. Indem sich jedoch der Körpersinn behauptet, wird die Blutzufuhr eingestellt. Mehr noch: „Kreislauf und Nervensystem werden“, wie es in der von Dr. Howardt für die Presse bewußt populär verfaßten Erklärung lautet, „faktisch dazu gezwungen, sich selbst nicht nur als falsch, sondern mehr noch, sich sogar als tot zu erkennen. Denn wenn sie glauben, etwas zu versorgen, was es tatsächlich nicht gibt, so gibt es sie selbst folglich auch nicht. So lautet der eindeutige Rückschluß des Gehirns des Morbus-Mannhoff-Patienten. Und an diesem Rückschluß stirbt er.“
Dieser zunächst für unabwendbar gehaltene Zustand wandelte sich Ende der achtziger Jahre in einen Glücksfall. Zwar war man mit den medizinischen Möglichkeiten immer noch nicht in der Lage, einem Kind, welches ja beständig wächst, ein künstliches Skelett einzusetzen, doch konnte man durch Beeinflussung des Körpersinns dem Gehirn zumindest die beständige Rückmeldung eines Skeletts simulieren. So kam es zu keinen widersprüchlichen Informationen und das Kind konnte, wenn auch mit gewissen anderen Symptomen und Krankheitserscheinungen, erst einmal am Leben erhalten werden.
Einst lebten die Menschen und die Götter beisammen. Die Menschen waren jedoch viel schlauer als die Götter und spielten ihnen beständig Streiche. Das einzige Mittel, um sich gegen die Frechheiten der Menschen zur Wehr zu setzen, bestand darin, daß die Götter sich unsichtbar machen konnten. Und wie machten sie sich unsichtbar? Ganz einfach: indem sie den Menschen, und zwar jedem einzelnen, Töpfe zum Reiskochen über die Köpfe stülpten. Schon wußten die Menschen nicht mehr, wo sie waren, und wurden ganz kleinlaut. Allein die Schamanen können die Götter, wenn auch etwas undeutlich, aus den Augenwinkeln heraus erkennen. Denn ihre Töpfe sitzen schief.
Dieser Mythos der Sedang fiel der Professorin für Frauenstudien, Rikke, nach dem Aufwachen als erstes ein. Sie meinte sogar, diesen Mythos selbst geträumt zu haben. In ihrem Traum waren es allerdings keine Schamanen, sondern Priesterinnen gewesen. Wer anders als die Frauen sollte es denn verstehen, mit dem Topf so gut umzugehen.
Sie hatte etwas Kopfweh von dem billigen Wein, den sie auf der Vernissage getrunken hatte. Wenn sie die Augen wieder schloß, sah sie eine leuchtende Perle am Boden eines Reistopfs liegen. Könnte diese Perle nicht das Auge des Schamanen sein? Der Reis als Symbol für Erkenntnis? Aber nur diejenige erkennt, die sich nicht allein um die Nahrungszubereitung bemüht, sich nicht mit dem ganzen Kopf im Topf, das heißt in Heim und Herd, versenkt.
Professorin Rikke rieb sich über das Gesicht. Es war Samstag früh. Wansl war schon mit Freunden unterwegs zu einem Flohmarkt, um elektrische Bauteile und alte Radios zu kaufen. Sie stand auf, ging aufs Klo, wusch sich flüchtig, schüttete sich ein Glas Milch ein und schaltete den Fernseher an. Gerade noch bekam sie die letzten Minuten der von Dr. Samuel Howardts Assistenten verlesenen Erklärung über den Morbus Mannhoff, die sogenannte Absolute Knochenabsenz, mit. Die Erklärung enttäuschte die Erwartungen von Professorin Rikke keineswegs, sondern beflügelte ihr Interesse für Douglas Douglas Jr. und dessen Eltern. Von Douglas Douglas Jr. selbst war, aus Gründen der Geheimhaltung wegen seines bevorstehenden Auftrags, nichts zu sehen. Ein Vertreter der Firma Behemoth führte stattdessen den Spezialanzug Leviathan vor und vergaß in seinen der Sachlage angemessenen ernsten, doch nicht gänzlich humorlosen Ausführungen auch nicht, Hobbes zu zitieren. Den Umständen angepaßt natürlich, die zwar auch nach einem absoluten Staat verlangten, aber, sozusagen auf dem Weg dorthin, zuallererst nach einem absolut zuverlässigen Froschanzug. Das Wortspiel rankte sich um „Art of the State“ und „State of the Art“ und lautete wörtlich: „If we want to set foot towards the ultimate Art of the State, what we do need now in this historic moment is a diving suite which comprises the ultimate State of the Art.“ Im Hintergrund meinte Professorin Rikke ein Ehepaar zu sehen, das so aussah, wie sie sich die Eltern von Douglas Douglas Jr. vorstellte. Aber die Kamera zog zu schnell vorüber.
„Was hat die Eltern dazu bewogen, bei so einer Aktion ihr Einverständnis zu geben?“ überlegte sie. Oder war es der ausdrückliche Wunsch des Jungen gewesen? Inwiefern war er überhaupt in der Lage, die ganze Situation einzuschätzen? Und dann dieser Arzt. Auf Ärzte hatte sie noch nie viel gegeben. Schon gar nicht auf die da drüben mit ihrem seltsamen Supermarkt-Gesundheitssystem, wo jeder sehen mußte, wo er bleibt und sich dann eben auf Liposuction und Boob-Jobs spezialisiert. Professorin Rikke wußte, wovon sie sprach, denn sie war vor zwei Jahren für drei Monate in Spokane, Washington gewesen, wo man ein kleines Zentrum für unabhängige Frauenstudien eingerichtet hatte.
Sie schaltete den Apparat aus und räumte die immer noch auf dem Boden verstreuten Murmeln in die Holzschachtel, die sie anschließend ins Schlafzimmer zurückbrachte. Natürlich gab es diese aufregenden Momente, die sie wohl mit kaum einem anderen so würde erleben können. Trotzdem überfiel sie, gerade jetzt am Wochenende, immer wieder dieses seltsam hektische und pochende Gefühl, endlich mal etwas anderes tun zu müssen. Und zwar sofort. Buntpapier in Fetzen reißen und auf riesige vorgeleimte Pappen streuen zum Beispiel. Aus so einer Idee war mal eine Performance im Foyer des Gießener Rathauses entstanden. Oder sich als Schwangere mit Lehm einschmieren und abfotografieren. Was Unsinn war, weil man nicht einfach kurz schwanger sein konnte. Oder sich in eine Maschine nach Wisconsin setzen, ganz so wie ein x-beliebiger Schaulustiger. Oder besser noch ein Journalist. Eine Story draus machen. Die Eltern von diesem Douglas aufspüren. Besser noch ihn selbst. Hintergrundinformationen bekommen. Ein paar Fotos machen. Und vielleicht mit ihm schlafen. So wie Diane Arbus mit ihren Modellen. Das waren auch Gnome und FKKler und alles bunt gemischt. Everything is Oooo. Oder dann doch nicht? Außerdem hatte das bestimmt schon längst einer gemacht. Was heißt einer. Alle Zeitungen hatten schon jemanden hingeschickt. Der Rolling Stone Hunter Thompson, und der New Yorker Tom Wolfe. So sah es doch aus. Sie zog sich an und beschloß, zum Bahnhof zu fahren, um sich dann wenigstens die einschlägigen amerikanischen Zeitungen zu besorgen.
Fast genau drei Monate waren seit der völligen Vernichtung seiner Aufzeichnungen vergangen. Und doch hatte Hugo Rhäs bislang nicht den Mut gefunden, einen wirklichen Schlußstrich unter dieses Thema zu ziehen. Nachdem sich der Samstag in einem Zustand des Herumdösens, Träumens und Erinnerns aufgelöst hatte, war er an diesem Julisonntag relativ zeitig aufgestanden und hatte die Blechdose mit dem symbolischen Ascherest seiner Radix-Theorie als Memento mori beim Frühstück vor sich auf den Tisch gestellt.
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