KARL MAY
DER SCHWARZE MUSTANG
ERZÄHLUNG AUS DEM WILDEN WESTEN
Aus
KARL MAYS
GESAMMELTE WERKE
BAND 38
„HALBBLUT“
© Karl-May-Verlag
eISBN 978-3-7802-1318-1
Die Erzählung spielt Mitte der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts.
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
DER SCHWARZE MUSTANG
1. Der Mestize
2. Der schwarze Mustang
3. Am Erlenquell
4. Die Birkenschlucht
5. Trügendes Gold
DER SCHWARZE MUSTANG
1. Der Mestize
Ein schwerer Sturm peitschte den dicht strömenden Regen gegen die sich vor ihm beugenden Tannenwipfel des Hochwaldes; fingerstarke Wasserfäden flossen an den Riesenstämmen nieder und vereinigten sich an den Wurzeln zu erst kleinen, nach und nach aber immer größer werdenden Bächen, die in zahllosen Wasserfällen von Fels zu Fels in die Tiefe stürzten, um unten im engen Tal von dem hoch aufgeschwollenen Fluss aufgenommen zu werden. Es war Nacht geworden; von Minute zu Minute rollte ein zürnender Donner über die Tiefe hin, doch so hell und grell der Blitz jedesmal dabei leuchtete, fiel der Regen so dicht herab, dass man kaum fünf Schritte weit zu sehen vermochte.
Der rasende Sturm traf oben den Hochwald und die Felsenklippen; seine Macht jedoch reichte nicht bis in die Tiefe, wo die Riesentannen im nächtlichen Dunkel unbeweglich standen; aber es war auch da nicht still, denn die Wasser des Flusses rauschten und brausten so erregt zwischen den Ufern dahin, dass nur ein ungemein scharfes Ohr hören konnte, dass zwei einsame Reiter flussabwärts geritten kamen; zu sehen waren sie nicht.
Wäre es Tag gewesen, so hätten sie gewiss den verwunderten Blick eines jeden Begegnenden auf sich gezogen, und zwar nicht etwa infolge ihrer Kleidung und Ausrüstung, sondern weil beide von einer wahrhaft Angst erregenden Länge waren.
Der eine war semmelblond und hatte einen bei seiner Höhe geradezu lächerlich kleinen Kopf. Mitten unter zwei gutmütigen Mäuseäuglein saß ein winziges, aufwärts gerichtetes Stumpfnäschen, das viel besser in das Gesicht eines vierjährigen Kindes gepasst hätte und in gar keinem Verhältnis zu dem ungeheuer breiten Mund stand, der sich fast vom einen Ohr bis zum andern zog. Einen Bart hatte der Mann nicht und dieser Mangel schien angeboren zu sein, denn über dieses frauenglatte Gesicht war gewiss noch nie ein Schermesser gegangen. Er trug ein ledernes Wams, das ihm wie ein kurzer Mantel faltenreich von den schmalen Schultern hing, dazu enge Lederhosen, die seine Storchenbeine fest umschlossen, halbhohe Schaftstiefel und einen Strohhut, dessen Krempe sich traurig herabneigte und den aufgefangenen Regen in ununterbrochenen Fäden rund um ihn niederströmen ließ. Auf seinem Rücken hing, die Mündung nach unten gerichtet, ein Doppelgewehr. Das Pferd, das er ritt, war ein kräftiger, starkknochiger Klepper, der gewiss schon fünfzehn Sommer hinter sich hatte, aber alle Lust zu besitzen schien, noch weitere fünfzehn ebenso rüstig zu erleben.
Der andere Reiter hatte dunkles Haar, auf dem eine uralte Pelzmütze saß, ein sehr schmales und sehr langes Gesicht, und ebenso sehr schmal und sehr lang waren auch die Nase, der Mund und der fadenartige Schnurrbart, dessen Spitzen fast hinter den Ohren zusammengebunden werden konnten. Seine weit über zwei Meter lange Gestalt war, umgekehrt zu seinem Gefährten, oben eng und unten weit bekleidet, denn während er eine sehr weite, faltenreiche Hose trug, deren Enden in rindsledernen Halbstiefeln steckten, umschloss seinen Oberkörper eine lange Filzjacke so eng, als sei sie ihm angegossen worden. Auch er hatte ein Doppelgewehr. Dass beide außerdem noch Messer und Revolver besaßen, war ganz selbstverständlich. Er saß auf einem zuverlässigen Mustang, dessen Wiegenfest sich wenigstens ebenso oft wiederholt hatte wie dasjenige des anderen Pferdes.
Die beiden Reiter kümmerten sich weder um den Weg noch um den strömenden Regen. Den Ersteren zu suchen und zu finden, das überließen sie ihren scharfsinnigen und erfahrenen Pferden, und aus dem Letzteren machten sie sich aus dem Grunde nichts, weil er ihnen ja doch nicht tiefer als bis auf die Haut gehen konnte.
Sie unterhielten sich trotz des unaufhörlichen Donnerns und Blitzens und trotz der gefährlichen Nähe des an seinen Ufern wühlenden und zerrenden Flusses so unbefangen miteinander, als ritten sie im hellen Sonnenschein über eine offene Prärie. Aber wer sie hätte sehen können, dem wäre wohl aufgefallen, dass sie einander trotz der Dunkelheit sehr aufmerksam beobachteten, denn sie kannten sich erst seit einer Stunde und im Wilden Westen ist ein anfängliches Misstrauen stets am Platz. Sie hatten sich kurz vor Einbruch der Nacht und dem Beginn des Gewitters oben am Fluss getroffen und da erfahren, dass sie beide heute noch nach Firwood-Camp[1] wollten; da war es wohl selbstverständlich gewesen, dass sie miteinander ritten.
Nach ihren Namen und Verhältnissen hatten sie sich nicht gefragt und ihre Unterhaltung war bisher so allgemein gewesen, dass sie Persönliches nicht berührte. Jetzt ertönte ein mehrfacher, krachender Donnerschlag und wiederholte Blitze zuckten blendend über die enge Tiefe hin. Da meinte der blonde Stumpfnäsige: „Bless my soul! Ist das ein Gewitter! Grad wie daheim bei Timpes Erben!“
Der andere hielt bei den beiden letzten Worten unwillkürlich sein Pferd an und öffnete bereits den Mund, um eine schnelle Frage auszusprechen, besann sich aber eines andern und schwieg, während er sein Pferd weitertrieb. Er erinnerte sich daran, dass man westlich vom Mississippi nicht unvorsichtig sein durfte.
Die Unterhaltung wurde fortgesetzt, natürlich ziemlich einsilbig, wie es die Örtlichkeit und Lage mit sich brachte. Es verging eine Viertelstunde und noch eine. Da machte der Fluss eine scharfe Biegung nach der Seite, wo sich die beiden Reiter befanden; er hatte das hier erdige Ufer unterwaschen; das Pferd des Blonden konnte nicht schnell genug wenden, es geriet auf die haltlose Scholle und brach ein, glücklicherweise nicht tief; der Reiter riss es empor und herum, gab ihm die Sporen und war mit einem kühnen Satz wieder auf festem Boden.
„Good God!“, rief er dann aus. „Ich bin schon nass genug vom Regen, wozu also noch ein solches Bad? Hier konnte ich ertrinken! Beinahe so wie damals bei Timpes Erben!“
Er nahm sichere Entfernung vom Fluss und ritt dann weiter. Sein Gefährte folgte ihm eine Weile schweigend und fragte dann: „Timpes Erben? Was ist das für ein Name, Sir?“
„Wisst Ihr das nicht?“, lautete die Antwort.
„Nein.“
„Hm! Sonderbar! Alle meine Bekannten und Freunde wissen es!“
„Ihr vergesst, dass wir uns vor wenig über einer Stunde zum ersten Mal gesehen haben.“
„Richtig! Da könnt Ihr freilich noch nicht wissen, wer Timpes Erben sind. Ihr werdet es aber vielleicht erfahren.“
„Vielleicht?“
„Ja, wenn wir nämlich länger beisammen bleiben.“
„Wenn ich es aber jetzt erfahren möchte, Sir?“
„Jetzt? Warum?“
„Weil ich Timpe heiße.“
„Was? Wie? Ihr heißt Timpe? Timpe ist Euer Name?“
„Ja.“
„Wonderful! Ich suche nach Timpe seit langen Jahren überall, auf den Bergen und in allen Tälern, im Osten und im Westen, bei Tag und bei Nacht, bei Sonnenschein und bei Regen, und nun, da ich es längst aufgegeben habe, ihn zu finden, da reitet er hier in diesem Wetter an meiner Seite und lässt mich beinahe in diesem schönen Fluss ersaufen, ohne mir zu sagen, wer er ist!“
„Ihr sucht nach mir?“, fragte sein Begleiter verwundert. „Weshalb?“
„Na, wegen der Erbschaft! Weshalb denn sonst?“
„Erbschaft? Hm! Wer seid Ihr denn eigentlich, Sir?“
„Ich bin auch ein Timpe.“
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