Es gibt Bedürfnisse in drei wichtigen Bereichen bzw. auf drei wichtigen Ebenen, die eine Person beim Kind befriedigen muss, damit sie zu einer Bezugsperson für den heranwachsenden Menschen wird. Der erste Bereich ist das körperliche Wohlbefinden. Die Bezugsperson muss die körperlichen Bedürfnisse des Kindes, also Essen, Trinken, Wickeln usw., stillen. Der zweite Bereich ist das psychische Wohlbefinden. In ihn gehört vor allem das Erleben von Liebe, Sicherheit, Geborgenheit, Zuverlässigkeit und Zuwendung. Der dritte Bereich, die dritte Ebene, ist die Entwicklung. Die Bezugsperson muss die Umgebung des Kindes so gestalten, dass es sich frei entwickeln und Erfahrungen und Wissen sammeln kann. 19
Eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür, dass eine Person zu einer Bezugsperson für das Kind werden kann, ist sicherlich die Möglichkeit des gegenseitigen Kennenlernens. Es ist ausgesprochen wichtig, dass das Kind genügend Zeit bekommt, um mit der Person vertraut zu werden, und diese Zeitdauer ist von Kind zu Kind auch sehr unterschiedlich. Das gilt natürlich auch umgekehrt, denn der Erwachsene braucht ebenfalls Zeit, um das Kind, seine Bedürfnisse und seine Eigenheiten kennenzulernen; auch hier werden individuelle Unterschiede bei der jeweiligen Person eine große Rolle spielen.
Ein Baby ist in den ersten Lebensjahren in der Lage, mehrere Bindungsbeziehungen zu verschiedenen Bezugspersonen einzugehen und aufzubauen. Dabei entwickelt es allerdings, wenn wir es schematisch ausdrücken, eine bestimmte Anordnung der Bezugspersonen, ähnlich dem Aufbau einer Pyramide. Es gibt eine sogenannte Hauptbezugsperson, die an der Spitze der Pyramide steht und zu der das Baby das größte Vertrauen hat, da sie ihn nach seinen Erfahrungen am nachhaltigsten beruhigen und ihm den größten Schutz bieten kann. Unterhalb der Hauptbezugsperson stehen die nachgeordneten Bindungspersonen, zum Beispiel der Vater, nahe Verwandte oder auch die Krippenerzieherin. Erlebt das Kind nun Stress, Angst oder Kummer, wird es immer die Nähe zu seiner Hauptbezugsperson suchen. Ist diese nicht verfügbar, wird es sich auch von einer der nachgeordneten Bezugspersonen trösten oder seine Bedürfnisse stillen lassen. Allerdings dauert die Beruhigung durch eine der nachgeordneten Bezugspersonen länger als durch die Hauptbezugsperson. Dennoch lässt das Baby auch den Körperkontakt und die Nähe einer nachgeordneten Bezugsperson zur Beruhigung seines aktivierten Bindungsbedürfnisses zu. Hat es die Wahl, wird es sich aber immer primär an seine Hauptbezugsperson wenden. 20
Grundsätzlich kann man festhalten, dass es keine festgelegte Anzahl von Bezugspersonen pro Kind gibt. Hier können wir große individuelle Unterschiede ausmachen, die vom Alter des Kindes und von seiner Persönlichkeit abhängen. Es spielt auch eine Rolle, ob die Eltern ihr Kind anderen Personen anvertrauen können. Generell lässt sich aber sagen, dass mehrere Bezugspersonen für ein Kind durchaus positiv und wichtig sein können, da es von verschiedenen Vorbildern lernt und mehr Erfahrungsmöglichkeiten hat und dadurch vor allem seine Beziehungsfähigkeit vergrößert und stärkt. Dennoch braucht es stets einen festen Kern, sogenannte Hauptbezugspersonen; das sind in der Regel die Eltern, denn nur mit ihnen ist das Kind umfassend vertraut.
Man kann sich das so vorstellen, dass die Hauptbezugspersonen das «Haus» bilden, von dem das Kind umgeben ist. Sie ermöglichen ihm, sich wirklich sicher und geborgen zu fühlen. Und in der Regel hat das Kind auch nur zu ihnen vollstes Vertrauen, hier fühlt es sich zu Hause. Alle weiteren Bezugspersonen sollten eine Art Kreis um das «Haus» bilden, sie sind gewissermaßen die «Nachbarhäuser», in die das Kind ab und an zu Besuch hineingeht, in denen es eine gewisse Zeit verbringt und in denen seine Bedürfnisse auch nur begrenzt befriedigt werden können. Der wesentliche Fokus des Kindes ist also auf das «Haus», die Hauptbezugspersonen, gerichtet, und hier sollte sich auch im Wesentlichen sein Leben abspielen.
«Sicher eingewöhnen» – das Modell
Die meisten Kinder werden mit dem Eintritt in eine Krippe, Kleinkindgruppe oder Spielgruppe zum ersten Mal die Erfahrung einer Fremdbetreuung in einer pädagogischen Einrichtung machen. Das ist ein großer und wichtiger Schritt für die Kleinen und sollte mit viel Empathie, Ruhe, Zeit, Geduld und Achtsamkeit begleitet werden.
Denn Eingewöhnung bedeutet immer auch Bindungsaufbau. Von einer sicheren Basis aus muss das kleine Kind eine weitere Beziehung zu einer ihm bis dahin völlig unbekannten Person aufbauen – eine Erfahrung, die auch das spätere Verhalten des Kindes im Hinblick auf seine Bindungsfähigkeit prägen wird.
«Sicher eingewöhnen» ist ein bindungsorientiertes und feinfühliges Eingewöhnungskonzept, dessen Grundpfeiler die waldorfpädagogischen Säulen der Ein- und Ausatmung und ein sich rhythmisch wiederholender Tagesablauf bilden. Dabei steht immer im Vordergrund, die Bedürfnisse des Kindes zu achten und eine sichere Beziehung zwischen ihm und der Erzieherin herzustellen. Es geht um eine Beziehung, die Hülle und Vertrauen schafft – sowohl für das Kind als auch für die Eltern.
Ich werde Sie nun Stück für Stück durch das Konzept «Sicher eingewöhnen» lotsen, sodass Sie, liebe Erzieherinnen, am Ende ein Eingewöhnungsmodell kennengelernt haben, das Sie zu Ihrem eigenen Werkzeug machen können. Und das Ihnen dabei helfen wird, eine sichere, tragfähige und feinfühlige Beziehung zum Kind aufzubauen.
Wir beginnen mit dem äußeren Rahmen.
Der äußere Rahmen
Das Aufnahmegespräch
Im Prinzip beginnt die Eingewöhnung mit dem Aufnahmegespräch, das mit den an einem Krippenplatz in Ihrer Einrichtung interessierten Familien geführt wird. Hier findet ein erstes Kennenlernen zwischen den Eltern, den Pädagogen und dem Kind statt. Man lernt das Kind kennen, die Eltern können etwas über sich und die Familie erzählen. Die Erzieherin hat die Gelegenheit, einen ersten spielerischen Kontakt zum Kind zu knüpfen. Kind und Eltern können einen ersten Eindruck von dem Gruppenraum und den Spielmaterialien bekommen. Gleichzeitig haben die Eltern bei diesem Gespräch die Möglichkeit, erste Fragen zur Eingewöhnung und zum Ablauf zu stellen.
Es ist auch ratsam, die Eltern bei diesem Gespräch gleich auf die Dauer der Eingewöhnung hinzuweisen. So wissen sie von Beginn an, mit welchem zeitlichen Aufwand zu rechnen ist, wenn ihr Kind einen Platz erhält.
Ebenfalls eignet sich das Aufnahmegespräch für Sie als Eltern, um sich mit den Pädagogen vielleicht über erste Sorgen oder Ängste auszutauschen.
Der Eingewöhnungselternabend
Sie, liebe Eltern, haben für Ihr Kind einen Platz in Ihrer Wunscheinrichtung bekommen. Auch die Pädagogen haben sich bewusst für die jeweiligen Familien und deren Kind entschieden. Jetzt geht es um die folgenden Fragen: Wie wird die Eingewöhnung denn genau ablaufen? Wann findet der erste Tag der Eingewöhnung statt? Wer wird die Eingewöhnung mit dem Kind begleiten?
Um diese Fragen in Ruhe beantworten zu können und den Eltern einen genauen Überblick über das Konzept der «sicheren Eingewöhnung» zu verschaffen, sollte im Sommer oder Frühsommer, vor Beginn des neuen Kitajahres, ein Eingewöhnungselternabend stattfinden.
Bei diesem Elternabend lernen sich alle neuen Familien kennen. Die Pädagogen geben den Müttern und Vätern einen Leitfaden mit, eine Art Handout «Sicher eingewöhnen» , und gehen gemeinsam mit ihnen jeden einzelnen Schritt der Eingewöhnung durch. Die Eltern können Fragen stellen und sich mit den Pädagogen austauschen. Wenn alle genügend Informationen und Wissen über die Eingewöhnung haben, sollte mit den Eltern besprochen werden, wann der erste Tag der Eingewöhnung der jeweiligen Kinder sein wird.
Читать дальше