An diesem Tag spielte sich auf den Champs-Élysées ein fröhliches Hupkonzert ab, wie es eben bei den Pariser Verkehrsstaus üblich ist. Wie bei einer gut aufgeführten Symphonie antworteten die Autofahrer mit Achtelnoten, Sechzehntelnoten und manchmal stimmten sie sogar selbst ein, je nach dem Vermögen ihres mächtigen »Kastens«, nicht dem ihrer Autos, sondern dem ihrer Brust und ihrer Stimmbänder. Getragen von der elektrisierenden Pariser Brise hallte dieses Hupkonzert der Autos im Stimmengewirr einer Menschenmenge wider, die vor einem Kino versammelt war. Vom breiten Bürgersteig war nichts mehr zu sehen. Er war überfüllt mit Menschen, die ungeduldig darauf warteten, ihre Tickets zu bekommen.
An diesem 2. Juni 2014 fand die Vorpremiere eines kleinen Films statt, über den schon viel geschrieben worden war: La Mante Religieuse . Dieser Film, der niemals hätte das Licht der Welt erblicken sollen, wurde nun doch plötzlich in der Arena eines dunklen Kinosaals aufgeführt und der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die Entstehung des Films La Mante Religieuse
Rückblende
An einem schönen Nachmittag im Juli setzen sich zwei junge Frauen in ihr Auto, lassen Paris hinter sich und nehmen die Autobahn in Richtung Normandie. Eine der Frauen ist Filmemacherin und hat gerade einen berühmten Filmproduzenten getroffen, der bereit ist, ihren Film zu produzieren. Die junge Frau schwebt im siebten Himmel! »Nach all den Jahren, in denen ich geschuftet habe«, freut sie sich, »werde ich endlich meinen Kindheitstraum verwirklichen können: meinen ersten großen Kinofilm inszenieren!«
Eine der beiden glaubt an Gott, die andere nicht. Obwohl sie vollkommen unterschiedlich sind, verbindet diese beiden Komplizinnen eine echte Freundschaft. Sie gehören zu dem Schwarm von Menschen, die früher in Paris gewohnt haben, nun aber »die Kühe der Normandie« gegen die »die Wölfe von Paris« ausgetauscht haben.
Beide freuen sich darüber, dass sie jetzt beisammen sind und ihre Ideen austauschen und gemeinsam über diese Welt philosophieren können, die immer schwieriger zu verstehen ist. Die gläubige Filmemacherin lässt bei einem solchen Tête-à-Tête niemals die Gelegenheit aus, der Ungläubigen von Gott zu erzählen. »Sie mit Religion zu nerven«, würde die andere verbessern. Eine Stunde Fahrt im geschlossenen Wagen war eine Gelegenheit, die man auf keinen Fall verpassen durfte. Ihre arme Freundin, die am Steuer saß, fühlte sich dem Martyrium nahe, und da sie es nicht mehr aushielt, wechselte sie vom Zustand der Ungläubigkeit in den einer überzeugten Atheistin.
»Weißt du, meine Liebe, wir sind nur vorübergehend auf der Erde«, warf die Filmemacherin plötzlich ein.
Ihre Freundin runzelte die Stirn. Solche Redewendungen kannte sie nur zu gut, da sie eine lange Erklärung über Glauben und die Dringlichkeit der Umkehr ankündigten. Sie musste schnellstens reagieren, um den Wortschwall zu stoppen, den ihre begeisterte Mitfahrerin über sie ergießen würde.
»Bitte, lass mich damit in Frieden. Du hast gute Neuigkeiten, du wirst endlich deinen Film drehen können, also please … Mit deinem Gott verdirbst du die Stimmung! Offen gestanden, es ist nicht leicht mit dir.«
Die Filmemacherin schwieg drei Sekunden lang, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen.
Wenn Frauen schon üblicherweise wissen, wie ein Gespräch fortgeführt werden soll, dann Filmemacherinnen erst recht – und ganz besonders diese hier.
»Dich in Frieden lassen? Kommt gar nicht infrage!«
Plötzlich begann ihre Freundin, an Reinkarnation zu glauben, da sie überzeugt war, dass sie in ihrem vorherigen Leben ein schreckliches Weibsbild gewesen sein musste, wenn sie jetzt eine solche Begleiterin verdient hatte.
»Der Sinn des Lebens, das ist Gott«, fuhr die von ihm Begeisterte unerschütterlich fort. »Alles andere ist nur eine Illusion, die uns vom Wesentlichen abhalten möchte, von IHM.«
»O. k.! O. k.! Ich werde darüber nachdenken, aber ein anderes Mal«, erwiderte die leidgeprüfte Atheistin und hoffte, dass dieser kleine Ansatz ihres offensichtlich guten Willens die nach Gott Hungernde beruhigen würde.
»Ein andermal ist es vielleicht zu spät.«
Die Fahrerin drückte aufs Gaspedal, um einen nicht enden wollenden Lkw mit Anhänger zu überholen.
»Wer sagt dir, dass nicht heute der letzte Tag deines Lebens ist?«, entfuhr es der »prophetischen Filmemacherin« wie ein Orakel.
Im selben Augenblick – wie eine taktlose Antwort auf die Frage – machte der Zehntonner einen schlechten Scherz, rammte ein Auto und schleuderte es mitten auf ihre Windschutzscheibe. Wie ein wildes Tier, das von nirgendwoher gesprungen kam, warf sich der Kombi Marke »Todesreiter« mit ausgefahrenen Krallen und seiner ganzen Karosserie auf die beiden Schwatzbasen. Ein Tsunami von Stößen, einer heftiger als der andere, warf ihr Auto an die Leitplanke auf der linken Seite, auf der man besser nicht stehen bleiben sollte. Die beiden jungen Frauen waren in ihrer Blechkiste eingeklemmt, Gefangene des Ungeplanten. Heute hatte die gemütliche Autobahn in Richtung Normandie für sie das Aussehen einer Leichenhalle angenommen.
Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam! (Mk 13,35–37).
Die Dinge des Lebens . Was für ein herrlicher Film! Ich erinnere mich, ihn als Kind gesehen zu haben. Er hat mich besonders beeindruckt! Romy Schneider und Michel Piccoli, davongetragen vom Wirbelsturm des Lebens. Sie sind schön, jung und stark und scheinen unsterblich zu sein.
»Unsterblich?« Welche leichtfertige Einstellung bringt uns eigentlich zu der Ansicht, Unfälle, Krankheit und Tod gebe es immer nur bei den anderen? Man fühlt sich stark, man glaubt, nichts könne einen erschüttern, bis zu dem Tag, an dem … Genau wie in dem Film von Sautet oder auch in dem Gedicht von Prévert, Das Lied im Blut: »Ein Mann ist da mit seinem ganzen Blut in ihm, und plötzlich ist er tot und all sein Blut ist draußen.«
Ich erinnere mich, wie ich an diesem Tag aus dem Meeting kam, mich von diesem wunderbaren Produzenten verabschiedete und auf einer Straße dahinflog, die ganz und gar mit Glück gepflastert war. Endlich sollte ich meinen ersten Spielfilm drehen können. Nichts konnte sich mir mehr in den Weg stellen. Nichts außer diesem verflixten Lastwagen!
O vergänglicher Glanz, Kürze des Lebens …
Der Apostel Jakobus vergleicht in seinem Brief unser Leben mit einem Rauch … den man eine Weile sieht; dann verschwindet er . Letztlich vergisst man das.
Ich höre noch, wie meine liebe, gute Freundin zu mir sagt: »Wir kaufen eine Flasche Champagner und stoßen mit deiner Familie an!«
»Eine Flasche pro Person!«, habe ich übermütig gekontert.
Pläne, Leben, Lebenslust, ein gut gefüllter Terminkalender und dann plötzlich – zack! Alles bleibt stehen. Der Tod fragt uns nicht, ob wir noch warten möchten.
Solche Autounfälle sind eigenartig: Alles geht sehr schnell und ereignet sich gleichzeitig im Zeitlupentempo. Die Geräusche verschwinden, als wollten sie uns von den Lebenden abschirmen und uns in eine flauschige, mit Watte gepolsterte Blase eintauchen, eine Art Filter zwischen zwei Welten.
Bei dieser Art von Erfahrung sieht man die Dinge schlagartig aus einem anderen Blickwinkel.
Das Erste, was meine stürmische und stolze Atheistin sofort nach dem Unfall zu mir sagte, klingt noch in meinen Gedanken nach. Im Auto eingeklemmt und vom Schock benommen hatte diese tapfere Lucy den Mumm, mich zu bitten, zu Gott zu beten und ihn um Hilfe zu rufen! Es stimmt, manchmal setzt Gott alles dran, um uns aufzuwecken. Auf jeden Fall hat er das mit uns getan. Mit mir. Obwohl ich damals schon gläubig war. Ich war eine praktizierende Katholikin. Ich »praktizierte« tatsächlich in weichen Pantoffeln und mit den Sicherheiten, die eine Religion gibt.
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