Schon bald steht sie wieder vor mir in meinem Zimmer und übergibt mir eine Schachtel, die sie in der Apotheke gekauft hat. Zusammen lesen wir die dreisprachige Gebrauchsanweisung – in das Döschen pinkeln, den Teststreifen reinlegen, drei Minuten warten, ist anschließend nur ein Strich zu sehen, ist das Ergebnis negativ, sind es zwei Striche, heißt das: positiv. Ganz einfach, also, los geht’s. Ich bedanke mich bei Shanice, aber sie bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und erwartet offensichtlich, dass ich jetzt ins Bad gehe und ihr danach sage, was rausgekommen ist. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage, sie soll mich bitte allein lassen. Nein, erwidert sie, in so einer Situation lässt sie mich doch nicht allein. Sie steht da wie ein japanischer Soldat, und ich habe das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Andererseits weiß ich nicht, wie ich ihr in diesem Augenblick etwas klarmachen soll, was auch immer, mir fehlt die Kraft dazu. Schließlich nehme ich die Schachtel mit dem Test und gehe ins Bad. Ich mache alles genau, wie es in der Gebrauchsanweisung steht: Ich pinkle in das Döschen, stelle es auf den Boden und lege den Streifen hinein. Dann warte ich, wie angegeben, drei Minuten. Währenddessen versuche ich, mich mit meinem Spiegelbild abzulenken. Ich werde meiner Mutter immer ähnlicher. Als meine Eltern damals nach Heidelberg kamen, war sie schwanger, aber das wusste sie nicht. Ob sie sich gefreut haben, als es feststand? Ob mein Vater Brot, Würstchen und eine Flasche Wein gekauft hat? Ob sie darauf angestoßen haben? Ob sie die ganze Nacht wach waren und Zukunftspläne gemacht haben? Ob sie gleich zu Hause anrufen wollten, bei ihren Familien, und die Nachricht bekanntgeben? Ob sie gelacht haben?
Ich bücke mich, um das, was ich gerade im Stehen gesehen habe, genauer in Augenschein nehmen zu können – zwei deutlich erkennbare Striche. Ich drehe den Streifen um, schüttele ihn, sehe ihn mir erneut an. Die zwei Striche sind immer noch da. Ich wasche mir die Hände und verlasse das Bad. Shanice sitzt auf meinem Bett und sieht mich erwartungsvoll an. Ich sage ihr die Wahrheit: »Positiv. Mal sehen, was ich jetzt mache.« Dann bitte ich sie mit Nachdruck um zwei Dinge: »Sag niemandem was! Und jetzt geh, bitte!« Shanice umarmt mich, bevor sie das Zimmer verlässt. Ich verriegele die Tür und wandere eine Weile hin und her. Dann setze ich mich aufs Bett. Ich öffne die Packung Kekse und die Flasche Apfelsaft, die ich gestern gekauft habe. Der Saft schmeckt köstlich, ich fühle, dass meine Muskeln sich entspannen, der Druck in der Brust lässt nach und das Kinn fängt an zu zittern. Ich presse den Kopf ins Kissen und weine, bis ich einschlafe.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.