Eine Zeitlang habe ich als Vorsitzender der Ortsgruppe Berlin die Versammlungen geleitet. Ich muß gestehen, daß ich gerade an der Leitung stürmischer Versammlungen ein großes Vergnügen wohl mehr sportlicher Art empfand. Es ist wohl die Leitung einer Versammlung, in der sich widerstrebende Elemente befinden, in gewissem Sinne mit der Leistung eines Orchesterdirigenten zu vergleichen, nur muß eben der Präsident verstehen, auch die opponierenden Elemente, die Gegenreden sowohl wie die Zwischenrufe und etwaigen Radautöne doch dem Ensemble sich eingliedern zu lassen. Es gab interessante Gegner genug, Männer wie Motzkin, Schmarjahu Levin, Martin Buber, Berthold Feiwel, neben den eingesessenen Berliner Stars Klee, Loewe, Friedemann. Ein besonderes Vergnügen machte es mir, wenn jener vielfach erwähnte Gegner unserer Sache, M. A. Klausner, auf der Tribüne erschien und zumal, wenn es ein Rededuell zwischen ihm und Heinrich Loewe gab. Man erzählt, – ich erinnere mich persönlich nicht an diesen Vorfall, daß Klausner einmal Loewe persönlich angriff – etwa mit den Worten: Es ist ein Mann im Saal, dessen Existenz ich für das größte Unglück für uns deutsche Juden halte, – und daß Loewe schlagfertig dazwischen rief: „Sie vergessen sich!“ – Als ich Klausner einmal wegen seiner Ausfälle zur Ordnung zu rufen gezwungen war, erhielt ich andern Tags von ihm einen Brief, in dem er sich wegen seines Verhaltens entschuldigte und mich sogar ob meiner korrekten Art der Versammlungsleitung bekomplimentierte, damit freilich eine Werbung für seine Organisation verbindend. – Auch in den internen Versammlungen gab es interessante Redeschlachten. In jenen Jahren war der „Kulturkampf“ noch nicht vorbei, dessen Auftakt auf dem V. Kongreß ich [im ersten Band der Erinnerungen ] geschildert habe. Von orthodoxer Seite wurde insbesondere eine heftige Polemik gegen die Entwicklung des Schulwesens in Palästina geführt. Insbesondere dagegen, daß an dem dortigen Gymnasium Bibelkritik getrieben wurde. In einer solchen Versammlung trat nach den konservativen Rednern, deren Hauptvertreter Hermann Struck war, auch Adolf Friedemann als Beschützer der religiösen Tradition auf. Nun kam Adolf Friedemann aus den Kreisen der Berliner Reform und war nichts weniger als gesetzestreu. Gerade aber zurück von einer Reise nach Palästina, die er in Gesellschaft von Hermann Struck gemacht hatte, stand er wohl noch unter dem Einfluß seines Freundes. Levin erwiderte. Nachdem er mit Struck sich auseinandergesetzt hatte, wandte er sich der Abrechnung mit Friedemann zu, indem er nach seiner Art eine Geschichte erzählte: „Vor einiger Zeit“, sagte er, „habe ich auf einem Rummelplatz in der Elsässer Straße eine Bude besucht, in der Neger wilde Schwerttänze aufführten. Als ich kürzlich vorüberkam, war das früher so besuchte Etablissement leer. Ich fragte den traurig vor seiner Bude stehenden Besitzer, woher das komme, worauf dieser antwortete: ‚Ja, in der Lothringerstraße hat sich eine Konkurrenz aufgemacht. Die Neger dort schreien und springen und lärmen noch mehr als meine. Der Unterschied ist nämlich der: meine Schwarzen sind echt, und jene sind gar nicht wirklich schwarz‘.“
Auch bei den Assimilanten herrschte lebhafter Betrieb. Es hatten wohl gerade die zionistischen Erfolge dort aufstachelnd gewirkt. Besonders das Angebot der englischen Regierung Uganda betreffend lenkte die Aufmerksamkeit auch fernstehender Kreise auf die zionistische Bewegung. Nun konnte wohl nicht mehr geleugnet werden, daß sie ernst genommen wurde. Man mußte so auch ein Gegengewicht gegen die Brüsseler Konferenz schaffen. Der „Hilfsverein der deutschen Juden“ (Dr. Paul Nathan) und „Die Deutsche Konferenzgemeinschaft der Alliance Israélite Universelle“ (M. A. Klausner), die sich schwer bekämpften, konkurrierten um die Gunst der deutschen Juden. Es wurde eine sogenannte Notabelnkonferenz einberufen, die nun im Gegensatz zu den demokratischen Veranstaltungen der zionistischen Kongresse die Elite der deutschen Judenheit, insbesondere die Elite des deutsch-jüdischen Kapitals, vereinen sollte. Ich schrieb damals eine Tannhäuser-Parodie, zu der Salomon Hildesheimer die Melodie machte, und in der jene Veranstaltung gehörig persifliert wurde. Da wurde bei dem Sängerstreit von den betreffenden Parteigängern die deutsche Hymne oder die Marseillaise gesungen, und als dann „der Sünde fluchbeladener Sohn“, nämlich der Zionist, die jüdische Melodie anstimmte, wurde er schmählich hinausgewiesen, und Tannhäuser, der sich eine Zeitlang in dem Venusberg bei der Venus Itoisia verirrt hatte, kehrte reumütig auf dem Wege, der zur War(t)burg führte, zurück, und die Stäbe der ruhelos umherirrenden Schnorrer- oder Pilgerschar schlugen, in den Boden des Heimatlandes gepflanzt, aus und wurden fruchttragend. Hildesheimer hatte es wundervoll verstanden, alle möglichen Schlagermelodien kontrapunktisch mit Wagnerischen Motiven zu verbinden.
Solche parodistischen Aufführungen wurden Jahr für Jahr veranstaltet. Die Texte schrieb ich gemeinsam mit Lazarus Barth und Hildesheimer (G.M.B.H. – Gronemann mit Barth und Hildesheimer), und letzterer, der unter dem Spitznamen „Pom“ ging, machte die Musik dazu (C’est la Pom qui fait la musique.)
Meine zionistische Tätigkeit rief mich oft nach Köln zu Sitzungen des deutschen Zentralkomitees oder auch des Aktionskomitees, das David Wolffsohn leitete. Die Sitzungen fanden gewöhnlich in dem Hotel Disch statt, und dort tauchte auch regelmäßig einer der ständigen Besucher der Kongresse auf, der seltsame junge Gelehrte Dr. Waldenburg. Dieser, ein Nachfolger Galls, hatte sich auf das Messen von Schädeln verlegt und schien im Begriff, eine neue Disziplin zu schaffen. Er hatte einen seltsamen Apparat konstruiert, den er unerbittlich jedem, der ihm in den Weg lief, auf den Kopf stülpte, um dann gewissenhaft die gewonnenen Meßresultate aufzuschreiben. Dieser Apparat hatte die Tücke, daß man sich von ihm nicht selbst befreien konnte. – Ich erinnere mich noch des Dr. Hahn aus Paris, wie er auf einem Kongreß entrüstet herumlief und allen Leuten zeigte, welche Wunden ihm an seinem kahlen Schädel Waldenburgs Maschine beigebracht hätte. – Einmal kam ich in einem Nebenraum des Hotels Disch dazu, wie Schmarjahu Levin unter diesem Apparat stöhnte. Eiligst holte ich einige Damen herbei, – Frau Bodenheimer, Frau Weizmann – und schmiedete mit ihnen ein Komplott. Sie verwickelten Waldenburg, der ein sehr höflicher Mann war, in ein Gespräch, und er setzte in seiner überaus langsamen Sprechweise seine Methoden auseinander, während sie ihn langsam und unmerklich aus dem Zimmer leiteten. Levin fluchte und schrie vergeblich um Hilfe, in den Klammern jenes furchtbaren Apparates, bis schließlich Waldenburg sich doch seines Gefangenen erinnerte. – Übrigens hatte Waldenburg seinerzeit eine höchst gelehrte Broschüre veröffentlicht, betitelt „Die isocephale Rassentheorie bei Hallig-Friesen und taubstummen Juden“. Er hatte sich zu Studienzwecken monatelang auf einer Hallig-Insel in der Nordsee niedergelassen, um durch Schädelmessen bei der Friesischen Bevölkerung, den typischen Germanen, Material für seine Theorie zu finden, daß nämlich der entartete jüdische Schädel ungefähr auf derselben Stufe stände wie der beste deutsche. Er war überzeugt, daß dieses Buch in keinem jüdischen Hause fehlen würde. Aber diese Erwartung erfüllte sich kaum, trotzdem jenem Werk ein gewaltiger Stammbaum einer friesischen Bauernfamilie als besondere Anziehung beigegeben war.
Für den Geist oder Ungeist, der in sogenannten liberalen Kreisen damals herrschte, ist wohl nichts bezeichnender als die Affäre des Rabbiners Emil Cohn. Emil Cohn, einer der wenigen zionistischen Rabbiner, hatte an einer Gedächtnisfeier für Herzl teilgenommen und wurde deshalb vor den Vorstand der Gemeinde zitiert. Als er das Recht der Rede- und Meinungsfreiheit für sich als Rabbiner in Anspruch nahm, erklärte ihm der Vorsitzende der Gemeinde, Herr Jacobi, brüsk: „Sie stehen bei uns in Lohn und Brot“ und bestritt ihm das Recht eigener Meinung. Da Cohn sich weigerte, sich zu unterwerfen, wurde er entlassen. Es setzte, und nicht nur bei den Zionisten, ein Sturm der Entrüstung ein, der auch in der nichtjüdischen Presse sein Echo fand. Franz Oppenheimer trat für den gemaßregelten Rabbiner ein, und sogar Maximilian Harden glossierte in einem Artikel „Rabbi Cohn“ das seltsame Verhalten der so reaktionären „Liberalen.“ In der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde gab es eine Interpellation. Der Syndikus der Gemeinde, Herr Justizrat Lilienthal, versuchte den Standpunkt des Vorstandes zu rechtfertigen. Unter anderem sagte er, – und diese Äußerung scheint mir charakteristisch für die seltsame Einstellung jener Zeit: „Herr Rabbiner Cohn, sagt, daß er über die Persönlichkeit Dr. Herzls gesprochen habe, ohne den Zionismus hervorzuheben. Kann man sich vorstellen, daß jemand über Kaiser Friedrich III. spricht, ohne über seine Stellung zum Antisemitismus zu sprechen?“ Diese merkwürdig kleinliche Auffassung, daß die Judenfrage auch für die Nichtjuden etwas so ungeheuer Wesentliches sei, hat sich bis in unsere Tage erhalten. Wenn die größten und schwierigsten Fragen der Weltpolitik auf der Tagesordnung stehen, glauben wir kleine jüdische Gemeinschaft sehr oft, daß unsere Angelegenheiten für die anderen ebenso wichtig sind wie für uns, während doch unser kleines Schiffchen neben den gewaltigen Riesenschiffen verschwindet. Ich muß da immer an eine Episode aus meiner Kindheit denken: Da wechselten wir die Wohnung, und als die Riesenkerle von Packern die gewaltigen Möbelstücke in den Wagen schoben, kam unser Kinderfräulein mit einem kleinen Fläschchen heran, reichte es den Riesen herüber: „Ach, bitte, sehen Sie doch zu, daß das Fläschchen nicht umfällt.“
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