Bei diesen meinen Neigungen war es natürlich sehr interessant, als ich eines Tages von einem mir nur dem Namen nach bekannten russischen adligen Latifundienbesitzer ein Telegramm bekam, in dem ich aufgefordert wurde, unverzüglich nach München zu fahren, um die Umstände des Todes des Grafen T. aufzuklären. Ich fuhr sofort in die Bayrische Hauptstadt und arbeitete dort mit Hilfe eines Detektivbüros, und indem ich die Bekanntschaft aller möglichen Leute aus der Umgebung jenes Grafen T. machte, drei Tage lang mit größter Intensität, um dann – eigentlich mit großer Enttäuschung – festzustellen, daß der Graf auf die natürlichste Weise nach einer Operation in der Klinik unter Erweisung aller medizinischen Ehren verstorben war. Ich nahm an, daß mein Auftraggeber ebenso enttäuscht sein würde und berichtete ihm telegraphisch und brieflich über den negativen Erfolg meiner Bemühungen. Zu meinem Erstaunen erhielt ich dann ein überaus befriedigtes und verbindliches Dankschreiben und ein reichliches Honorar. Was eigentlich hinter der Sache steckte, habe ich nie erfahren.
In einem andern Falle aber hatten wir, oder in der Hauptsache Alfred Klee, die Gelegenheit, einen Todesfall, der unter eigentümlichen Umständen erfolgt war, wirklich aufzuklären und damit zwei brave Leute von Elend und Schande zu retten. In einem Harzstädtchen war eine alte Frau gestorben, und es ging in dem Ort das Gerücht um, daß ihre Tochter und deren Mann, angesehene Bürger, sie beseitigt hätten. Besonders war es der Bürgermeister, der mit diesen Leuten verfeindet war, der dieses Gerücht verbreitete und schließlich die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten veranlaßte. Die Leute wurden in Haft genommen und kamen vor das Schwurgericht in Göttingen. Das Verfahren endete damit, daß die beiden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Der Arzt aber, der die alte Frau behandelt hatte, beruhigte sich dabei nicht, überzeugt von der Unschuld der Leute und davon, daß die alte Frau eines natürlichen Todes gestorben war. Er wandte sich an hervorragende Sachverständige in Berlin, und man zog schließlich Alfred Klee zu, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen. Die Aufhebung eines schon rechtskräftig gewordenen Urteils gelingt nur äußerst selten. Klee, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß hier ein Justizmord vorlag, setzte mit ungeheurem Eifer das Wiederaufnahmeverfahren durch, und in der neuen Verhandlung vor dem Schwurgericht erreichte Klee den Freispruch und die vollkommene Rehabilitierung der unschuldigen Angeklagten. Die Leute waren natürlich überglücklich, und die Frau kam eines Tages nach Berlin gefahren, um noch einmal in unserem Büro sich zu bedanken. Sie schilderte eindringlich die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, und schloß ihre Rede mit den bezeichnenden Worten: „Mein guter Engel hat mich schließlich zu Ihnen geführt, und so bin ich endlich in gute christliche Hände geraten.“ Sie war wohl nicht die einzige, welche die Erfahrung machen mußte, daß das, was im allgemeinen unter „guten Christen“ verstanden wird, sich sehr oft gerade unter Juden findet.
Seltsamer Weise wurde meine detektivische Neigung auch in der berühmten Konitzer Affäre in Anspruch genommen. Der Fall selbst, die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter lag freilich Jahre zurück. Um das Jahr 1900 war ein 19jähriger, wegen seines ausschweifenden Lebens recht übel beleumdeter junger Mann, Schüler des Gymnasiums der Stadt Konitz, ermordet worden. Seine Leiche war zerstückelt, und die einzelnen Teile wurden an verschiedenen Stellen aufgefunden. Sofort tauchte das alte Gespenst der Ritualmordbeschuldigung auf. Die antisemitische Presse bemächtigte sich des Falles, und besonders tat sich der Redakteur der Staatsbürger-Zeitung, der berühmte Antisemitenführer Bruhn, hervor. Bis in die weitesten Kreise schenkte man dem Märchen Glauben. Ich erinnere mich, wie ein jüdischer Amtsrichter, der, um sich der unerträglich gewordenen, vergifteten Atmosphäre in Konitz zu entziehen, sich nach Hannover hatte versetzen lassen, – viele Juden verließen damals ihre Heimatstadt – zu seinem Schrecken bei einem Diner von seiner Nachbarin, die den besten und intelligentesten Kreisen angehörte und nicht ahnte, daß ihr Tischherr Jude war, hören mußte: „Sie sind aus Konitz? Da zweifelt doch sicher kein Mensch daran, daß dieser Winter ein Opfer fanatischer Juden geworden ist.“ – Es kam in Konitz und Umgebung zu ernsthaften Pogromen, und nur das Einschreiten von Polizei und Militär verhinderte Schlimmeres. Die Untersuchungen blieben erfolglos, obwohl sich die gewiegtesten Kriminalisten und Detektive Deutschlands der Sache angenommen hatten. Es gab nun eine Reihe von Meineidsprozessen gegen verschiedene Einwohner der Stadt, die in der Sache als Zeugen vernommen waren, und mehrere von ihnen wurden auf Grund sehr zweifelhafter Aussagen zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt. Maximilian Harden hat in seiner „Zukunft“ ausführlich über diese Vorgänge sich ausgelassen. Selbst als ein Gutachten höchster medizinischer Autorität zweifellos festgestellt hatte, daß Winter erwürgt war, offenbar bei einem galanten Abenteuer überrascht, brachte das die Hetze nicht zum Stillstand, und der Glaube an den Ritualmord blieb unerschüttert.
Nun, viele Jahre später, kam zu mir eines Tages höchst aufgeregt der Redakteur Julius Moses, der spätere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, und erklärte, er glaube, jetzt auf der Spur jenes Mörders zu sein. Es fand eine Konferenz bei dem schon oft von mir genannten M. A. Klausner statt, und dort wurde mir nun mitgeteilt, daß gewisse Indizien auf einen Konitzer Schulmann hinweisen. Man meinte, daß dieser jenen unglücklichen jungen Mann beim Verkehr mit seiner Tochter ertappt habe, und daß dann im Jähzorn jene Tat von ihm begangen sei. Das mir vorgelegte Material war sehr dürftig. Es handelte sich in der Hauptsache nur um Hypothesen, die jene Darstellung in den Bereich der Möglichkeit, aber kaum in den der Wahrscheinlichkeit rückten. Immerhin ließ ich mich bei der Bedeutung, die die Angelegenheit für die jüdischen Interessen hatte, dazu bewegen, der Sache nachzugehen. Es gelang mir, Einsicht in die längst reponierten Akten zu nehmen, und ich überzeugte mich, daß wirklich mit überaus großem Eifer und Scharfsinn von den Behörden an der Aufklärung gearbeitet war. Aber doch kam ich schließlich in der Tat auf ein Indiz, das den Untersuchungsbeamten bisher entgangen war. Der Kopf jenes unglückseligen Winter war in eine Zeitung gewickelt gefunden worden, deren Datum seltsamer Weise mehrere Jahre gegenüber dem Mordtage zurücklag. Das fiel mir auf. Ich fragte mich, wer nun ein Interesse haben könnte, eine Nummer des Konitzer Tageblatts jahrelang aufzubewahren. Ich stöberte im Zeitschriften-Lesezimmer der Königlichen Bibliothek jene Nummer auf und studierte sie sorgfältig. Zu meinem höchsten Erstaunen fand ich das, was ich gesucht hatte, nämlich eine Todesanzeige, die die betreffende verdächtige Persönlichkeit in der Tat nahe berührte. Damit war allerdings nun eine gewisse Grundlage für ein weiteres Vorgehen geschaffen. Aber dann stellte sich heraus, daß diese Person schon seit Jahren verstorben war, und daraufhin beschlossen wir, die Sache als aussichtslos liegen zu lassen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, daß nach meiner Auffassung, zumindest in dem Deutschland jener Zeit, in der ich dort wirkte, es wohl selten zu einem Justizmord kam. Wohl mögen oft Vorurteile aller Art, Klassenvorurteile, Rassenwahn und irgendwelche Ressentiments bei der Urteilsfindung mitgewirkt haben, ohne daß sich die Richter über ihre Voreingenommenheit im klaren waren. In solchen Fällen liegt eine Rechtsbeugung vor, bewußter oder unbewußter Art. Ein Justizmord liegt aber nur dann vor, wenn objektive und unabhängige Richter in gutem Glauben zu einem Fehlurteil kommen. Im andern Falle kann der Fehlspruch nicht der Justiz, sondern nur ihren Vertretern zur Last gelegt werden. Viel häufiger natürlich, als daß ein Unschuldiger verurteilt wird, geschieht es natürlich, daß ein Schuldiger freigesprochen wird. Im Grunde genommen ist auch das ein Justizverbrechen.
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