S. wurde am nächsten Morgen von seinen Freunden auf das Schiff gebracht und nach New York zurückbefördert, um ihn vor der Volkswut zu schützen. Man erzählt nun folgendes, für dessen Wahrheit ich mich freilich nicht verbürge: S. hatte sich durch sein Temperament so ziemlich auf jedem Kongreß eine Ohrfeige zugezogen, und als seine Freunde ihn am Schiff in New York erwarteten, sollen sie nur gefragt haben – „Von wem?“, und als er sagte: „Von Nordau!“, hieß es: „Du renommierst!“ – In Hamburg aber spielte sich folgende Szene ab: Im Aktionskomitee machte Wolffsohn Nordau die heftigsten Vorwürfe. Nordau sagte: „Der Mann hat sich ungezogen benommen, und ich habe ihm die gebührende Antwort gegeben. Was denn hätte ich tun sollen?“ – Wolffsohn sagte: „In solchem Falle dreht man dem Mann den Rücken und entfernt sich.“ – „Nein“, antwortete Nordau, „das wäre eine Unhöflichkeit gewesen, deren ich niemals fähig gewesen wäre.“
Die Lektüre des stenografischen Protokolls des Kongresses gibt kaum ein rechtes Bild von den Vorgängen, insbesondere am letzten Kongreßtage; denn in der Hauptsache spielten sich die Ereignisse hinter den Kulissen ab, und insbesondere in den Sitzungen des Permanenzausschusses, der wirklich beinahe permanent tagte. Die letzte Sitzung des Kongreßplenums dauerte eigentlich 18 Stunden. Sie begann am Donnerstag, den 30. Dezember, vor 10 Uhr und endete in der darauffolgenden Nacht um 4 Uhr. Sie war zwar immer wieder von langen Pausen unterbrochen, aber in diesen wartete man auf die Kundgebungen des Permanenzausschusses, der bei der von Stunde zu Stunde wechselnden Situation immer wieder zusammentreten mußte. Es herrschte eine fast unerträgliche Spannung und Nervosität, die im Permanenzausschuß oft zu lebhaften Eruptionen führten; da der Vorsitzende, Chaim Weizmann, sehr übermüdet und verärgert war, übergab er mir sehr oft den Vorsitz, und ich erinnere mich, welche Mühe ich hatte, Abstimmungen ordnungsgemäß durchzuführen. Die Delegierten waren nicht auf den Sitzen zu halten. Immer wieder bildeten sich Konventikel in den Ecken des Saales, so daß das Auszählen sehr schwer war. Insbesondere war es der überaus temperamentvolle Herbert Bentwich, der immer wieder aufsprang und irgendwelche Leute zu einer besonderen Besprechung heranholte. Ich war auf einen Tisch gestiegen, um die Versammlung überblicken zu können, und da kam es auch bei mir zu einer Eruption, und mir entschlüpfte der wenig parlamentarische Ausdruck: „Jetzt laufen die verfluchten Kerls doch wieder durcheinander!“ Diese Explosion rief stürmische Heiterkeit hervor, man besänftigte sich etwas, und so konnte man schließlich doch zu einem Ziel gelangen. Letzten Endes war aber alle aufgewendete Mühe nutzlos vertan; denn alles, was wir in den langen Sitzungen von Debatten schließlich als unseren Antrag an das Plenum festgesetzt hatten, wurde dort im letzten Moment wieder umgestoßen, als nacheinander die von uns nominierten Kandidaten erklärten, die Wahl nicht annehmen zu können. Und so kam es schließlich überhaupt nicht zu einer eigentlichen Wahl, sondern es blieb nichts anderes übrig, als auf eine Neuwahl zu verzichten und die alten Funktionäre sowohl der Exekutive wie des Aktionskomitees in ihren Ämtern zu belassen. Wolffsohn blieb also Präsident, aber unter diesen Umständen war niemand mit dem Ausgang zufrieden. Man schlich nach Kongreßschluß beim Morgengrauen äußerst deprimiert nach Hause. Die Stimmung war ganz anders als sonst nach Schluß eines Kongresses. Nicht einmal die Hymne wurde angestimmt. (Das Protokoll ist in diesem Punkte unzutreffend.)
Der letzte Tag des Jahres brach an, und so hatte man nicht nach dem Silvesterabend, sondern vor ihm einen gehörigen Katzenjammer. Eine ziemlich verbreitete Anschauung war, daß David Wolffsohn den Gang der Ereignisse vorausgesehen und vielleicht auf dieses Ergebnis hingearbeitet hatte. Nach meiner Auffassung lag die Sache folgendermaßen: Nachdem Wolffsohn auf dem Kongreß einen so überaus starken Eindruck gemacht hatte, – zur größten Überraschung seiner Gegner und der von ihnen beeinflußten Menge – schlug man, um ihn zu beseitigen, eine ganz andere neue Taktik ein. Der Angriff richtete sich jetzt nicht mehr sowohl gegen seine Person als – gegen die Stadt Köln. Das, was vorher nur ein nebensächliches Argument gewesen war, daß nämlich der Sitz der Exekutive nicht mehr in einer Provinzstadt aufrechterhalten werden könne, wurde jetzt in den Vordergrund geschoben. So kam man denn zu der Formel, daß man gegen das Präsidium von Wolffsohn von dem Moment an nichts mehr einzuwenden haben würde, indem er sich entschließen würde, nach Berlin zu übersiedeln. Man glaube, sicher zu sein, daß er diese Bedingung ablehnen würde, und Wolffsohn tat alles, um die Delegierten in dieser Ansicht zu bestärken. Denn er wußte sehr wohl, daß, wenn er jetzt etwa seine Bereitwilligkeit, nach Berlin zu ziehen, ausdrücken würde, dann sofort der Kampf gegen seine Person neu einsetzen würde. Im Stillen aber dachte er wohl daran, wenn erst der Kongreß auf jene Formel sich festgelegt haben würde, dann nach einiger Zeit doch die Übersiedlung vorzunehmen und so den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dann aber, nachdem er dieses Opfer gebracht haben würde, würde seine Position nahezu unerschütterlich geworden sein.
Das alles ist natürlich nur meine persönliche Auffassung. Aber folgende Episode spricht wohl für ihre Richtigkeit: Ich saß eines Abends im Logenhaus in einer Ecke mit Wolffsohn, als plötzlich Bodenheimer mit einer gewissen Feierlichkeit vor ihn trat und fragte: „Herr Präsident Wolffsohn, ich frage Sie noch einmal und erwarte eine präzise Antwort: Ist es für Sie absolut ausgeschlossen, nach Berlin zu gehen?“ – Ich sah gespannt Wolffsohn an. Wolffsohn unterdrückte, glaube ich, ein unhöfliches Wort, biß sich auf die Lippen und antwortete nach Sekunden: „Sie kennen meine Erklärungen. Ich kann an dem, was ich gesagt habe, nichts ändern.“ – Bodenheimer entfernte sich, und ich hatte den Eindruck, daß Wolffsohn leise vor sich hin schimpfte. Ich hatte die Keckheit, ihm zu sagen: „Herr Präsident, ich glaube, Ihr Spiel zu kennen. Sie sind innerlich entschlossen, wenn Sie Präsident bleiben, in Kürze nach Berlin zu ziehen.“ – Wolffsohn wandte überrascht sein Gesicht mir zu, sah mir bedeutsam in die Augen und gab mir schmunzelnd einen kräftigen Rippenstoß, sagte aber kein Wort.
Daß es später anders kam, lag daran, daß Wolffsohn ein halbes Jahr später in Königsberg eine schwere Herzattacke hatte und von da an wußte, daß er seine volle Arbeitskraft nie wiedererlangen würde, und daß seine Tage gezählt wären. Das geschah nach einer recht interessanten Aktionskomitee-Sitzung im Hotel Esplanade in Berlin, in der viele Differenzen ausgetragen wurden und bei der Wolffsohn mehr mit seinen eigentlichen Parteigängern, insbesondere mit Alexander Marmorek, zu kämpfen hatte, als mit den sogenannten „Praktischen“; denn jetzt wurde ihm wieder übelgenommen, daß er allzu wenig Gewicht auf die politische Tätigkeit legte. Wenn David Wolffsohn sich so an das Amt klammerte, geschah das nicht aus persönlicher Eitelkeit oder aus übergroßem Geltungsbedürfnis. Er war fest überzeugt davon, daß in diesem Moment er auf jenem Posten unentbehrlich sei, und sein Abgang eine schwere Gefährdung der Bewegung hervorrufen würde. Er fühlte sich als Wahrer der Erbschaft seines großen Freundes Herzl und hätte es als Felonie betrachtet, wenn er den Posten nicht bis aufs letzte verteidigt hätte. Als die Ärzte ihm dringend rieten, sich von jener zionistischen Arbeit zurückzuziehen, da sie sonst für nichts einstehen könnten, sagte er: „Ich habe keinen Kontrakt gemacht, nachdem ich verpflichtet wäre, 60 Jahre alt zu werden.“
Meine Berufstätigkeit entwickelte sich sehr interessant. Von jeher hatte ich eine besondere Vorliebe für Detektiv-Romane und ging gern in den Spuren des Chevalier Dupin (Poe), Sherlock Holmes (Doyle) oder Mr. Lecocq (Gaboriau), deren Ahnherr ja eigentlich Wilhelm Hauffs Jude Abner ist. Ich suchte die bewährten Methoden dieser Helden zu befolgen und erlangte eine gewisse Fertigkeit, die mich in die Lage versetzte, ganz fremden Leuten, die in meine Sprechstunde kamen, von vornherein anzusehen, was sie zu mir führte. Ich erinnere mich z. B., einen wildfremden Mann, der in mein Zimmer trat, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, dadurch in ziemliche Verwirrung gesetzt zu haben, daß ich bemerkte: „Ich gebe zu, daß Sie als Lehrer manchen Versuchungen ausgesetzt sind, aber es ist schlimm, daß Sie sich an den Ihnen vertrauten Kindern in so schwerer Weise vergangen haben.“ Er versuchte zu leugnen, aber als ich ihm sagte, daß ich dann kaum zu solcher Diagnose gekommen wäre, gestand er sein Vergehen. Er wurde dann auch zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt.
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