Scott McClanahan - Sarah (eBook)

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Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir weggenommen: Zuerst verlierst du deine Jugend, dann deine Eltern, dann verlierst du deine Freunde, und am Ende verlierst du dich selbst." So beginnt Scott McClanahans semiautobiografischer Roman über Sarah – seine erste Liebe, die Mutter seiner Kinder, seine Ex-Frau. Ein Buch über die Magie des Kennenlernens, über die Entstehung einer jungen Familie und ihre Auflösung. Genauso humorvoll wie traurig, tragisch wie hoffnungsreich, umspannt es den Bogen einer Existenz mit all ihren Höhenflügen und Absurditäten und entwirft so auch das Bild einer ganzen Generation. Mit ihren Sorgen und Hoffnungen, gefangen auf kleinstädtischen Walmart-Parkplätzen und in abgefuckten Kellern. Sehr amerikanisch und dabei universal. Eine frische, leichtfüßige und unerbittlich klare Stimme, wie man sie so noch selten gehört hat.
Über die Liebe und ihren Verlust: Indie-Ikone Scott McClanahan erstmals auf Deutsch.

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Sarah eBook - изображение 1

Scott McClanahan

Sarah

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Clemens Setz

ars vivendi

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Sarah Book bei Tyrant Books, New York.

Copyright © Scott McClanahan

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen deutschen Originalausgabe 2020

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten.

www.arsvivendi.com

Cover: Sarah Eschbach

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

ISBN 978-3-7472-0107-7

Für Julia

Inhalt

TEIL EINS TEIL EINS

TEIL ZWEI

TEIL DREI

DER AUTOR

TEIL EINS

Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir weggenommen: Zuerst verlierst du deine Jugend, dann deine Eltern, dann verlierst du deine Freunde, und am Ende verlierst du dich selbst.

Ich war der beste betrunkene Autofahrer der Welt. Ich war schon jahrelang in Übung. Eines Morgens kam Sarah von der Arbeit nach Hause und ging sofort ins Bett. Ich deckte sie gut zu, küsste sie auf die Stirn und sagte, dass sie sich um nichts zu sorgen brauche. Ich sagte ihr, sie solle einfach ins Traumland hinübergleiten und nicht mehr an ihre Nachtschicht denken, und wenn sie erwachte, würde alles besser sein. Dann machte ich die Tür zu und schlich die Kellertreppe hinunter. Ich wich den Bergen aus Müll aus und ging in den kleinen Raum, in dem das verstimmte Klavier aus Sarahs Kindheit stand. Dort bewahrte ich die große Flasche auf. Ich nahm die leere Wasserflasche aus meiner Hosentasche und öffnete den Deckel des Klaviers. Das Holz knarrte iiek und klaffte auf wie das Maul eines Ungeheuers. »Ich mach mir Sorgen um dich«, hatte Sarah mir einige Wochen zuvor gesagt. Daran musste ich nun denken, als ich in das aufgeklappte Klavier hineinfasste und die Flasche herauszog. Ein paar Klaviertöne taten sich zu einer kurzen Melodie zusammen, als ich den Deckel abschraubte und meine leere Wasserflasche darunterhielt und sie befüllte. Ein kleines Liebeslied. Ich hörte ihm zu. Dann schraubte ich beide Deckel fest, legte die große Flasche zurück und klappte das Klavier zu.

Jetzt kam das Beste. Auto fahren. Ich fuhr die Straße runter, vorbei an roten Ampeln und Stoppschildern, die »Stopp!« brüllten. Ich schwebte mit 120 km/h auf gleicher Höhe mit anderen Autos und dachte: Wir sind alle nur wenige Meter voneinander entfernt. Nur ein paar Meter von der Physik des Todes entfernt.

Manchmal sagte ich so etwas laut und manchmal auch nicht. Ich wechselte auf die Interstate und starrte auf die weißen Linien und dachte an meinen Freund, der immer geisteskrank lachte, wenn ich zu ihm ins Auto stieg, und dann »Ich bin der beste betrunkene Autofahrer der Welt!« brüllte und aufs Gaspedal trat. Womit er, ganz unter uns, absolut recht hatte. Es war fast so, als hätten sich alle seine Reflexe verbessert oder so. Oder vielleicht war er auch einfach nicht so nervös und unter Spannung und konnte Auto fahren, ohne Auto zu fahren. Ich hab ihn einmal nach seinem Geheimnis gefragt, warum er niemals von der Polizei angehalten worden war, und er sagte mir, du musst unsichtbar sein. »Sei unsichtbar, Scott. Sei unsichtbar.«

Ich trank aus der mit Gin gefüllten Wasserflasche und trank dazu Wasser aus einer anderen Wasserflasche und dann wiederholte ich das Ganze. Aus dem Handschuhfach holte ich das Mundwasser. Ich machte den Deckel auf und musste kurz kichern und kippte das Zeug in meine Kehle und gurgelte. Dann fuhr ich weiter auf den blauen Himmel und die purpurne Erhabenheit der Berge zu und ich spuckte das Mundwasser zurück in die Mundwasserflasche. Ich hörte Radio und suchte nach einer CD und fühlte mich wie sonst nie. Ich fühlte mich ruhig, ich fühlte mich glühend, und unsichtbar. Und ich fuhr auf der Interstate den Hügel hinauf. Dann hörte ich Iris.

»Oh Gott, Scheiße«, sagte ich. Ich hatte die Kinder vergessen. Ich wandte mich um und da, auf dem Rücksitz, waren mein Sohn Sam und meine Tochter Iris. Die ganze Zeit passierte mir so saudummer Scheiß, wie zum Beispiel die Kinder mitnehmen und dann vergessen, dass sie da sind, oder die Kinder ins Auto laden und dabei gar nicht registrieren, dass ich sie ins Auto lade. Ich rief: »Geht’s euch gut da hinten? Setzt euch einfach hin und genießt die Fahrt. Vielleicht fahren wir Oma und Opa besuchen, ja? Wollt ihr Oma und Opa besuchen?«

Ja, wollten sie. Also streckte ich meinen Arm in die Luft und rief: »Dann auf zu Oma und Opa!« Und sie lachten, da hinten auf ihrem Rücksitz, und ich rief noch einmal: »Auf zu Oma und Opa!«, allerdings lachten sie diesmal nicht mehr. Aber es war mir egal. Ich würde mir von ihrer Griesgrämigkeit nicht die Stimmung verderben lassen. Also nahm ich einen Schluck vom Gin und spülte mit Wasser nach und die ganze Welt drehte durch. Ich begriff, wie sehr ich jeden Tag Angst hatte, Sarah könnte meine Flaschen entdecken. Ich begriff, wie sehr ich Angst hatte, dass sie meine Versteckplätze fand. Also trank ich weiter. Ich stellte mir vor, die ganze Haut der Erde aufzutrinken und all das Blut der Welt und die Geister all meiner Freunde und ich trank sogar die Luft. Ich ließ meine Kinder schmelzen und trank auch sie. Und sie schmeckten herrlich.

Ich fuhr also weiter in Richtung Oma und Opa, und da bemerkte ich auf einmal das Polizeiauto neben der Straße. Fuck. Fuck. Auf die Bremse. Auf die Bremse. Radarpistole. Wir fuhren vorbei. Ich schaute in den Rückspiegel und dachte: Bleib, bitte bleib. Ich stellte mir vor, ich wäre unsichtbar. Dann sah ich, wie das Polizeiauto in Bewegung kam und auf die Interstate fuhr. Ich sah die Lichter. Rot. Blau. Weiß. Rot. Blau. Weiß. Ich fuhr weiter und erinnerte mich daran, was mir mein Nachbar, der auch Polizist war, geraten hatte: »Das Verhalten von Personen nach dem Angehaltenwerden entscheidet darüber, ob sie verhaftet werden.« Ich hielt am Straßenrand, wenige Meter entfernt von den anderen Autos, die mit 120 an uns vorbeirasten. Wir waren alle so nah dran, einander zu erschlagen, die ganze Zeit. Das Polizeiauto hielt hinter mir. Ich sah das Gesicht des Polizisten im Rückspiegel.

Für einen kurzen Moment blieb er in seinem Wagen sitzen, also nahm ich schnell drei Stück Kaugummi aus meiner Hemdtasche, die ich immer dort aufbewahrte. Ich steckte sie in den Mund, um den Geruch zu übertönen, dann beobachtete ich den State Trooper, wie er aus seinem Wagen stieg, jetzt richtete er sich auf und immer weiter auf und stand schließlich ganz aufrecht da. Und da kam er, riesengroß, zu mir, und ich beobachtete ihn, wie er die Rückseite meines Autos berührte, um dort für den Fall, dass ich auf ihn schoss und davonfuhr, seine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Ich kurbelte das Seitenfenster runter, und der Polizist sagte: »Führerschein und Zulassung bitte.«

Aber ich war vorbereitet. Führerschein und Zulassung und Versicherungsvertrag lagen immer auf dem Beifahrersitz, damit ich mich bei einer Kontrolle nicht besoffen durchs Handschuhfach fingern musste. Ich reichte ihm die Unterlagen und dachte dabei: »Nicht zittern. Bitte nicht zittern.« Wenn ich mich betrank, saß ich immer auf Parkplätzen und übte Sprechen ohne Lallen und Bewegen ohne Zittern. Aber jetzt war ich hier und meine Worte verwischten sich und meine Hände zitterten. Beinahe wäre mir alles runtergefallen. Der Polizist sagte nichts. Er bückte sich und schaute zu uns in den Wagen herein.

Dann stand er einfach da und schaute sich die Zulassung an. Dann den Führerschein. Dann den Zettel von der Versicherung. Schließlich neigte er sich ein wenig nach vorne, als wäre da ein Geruch an mir. Ich war mir sicher, dass er ihn bemerkte. Die Kinder strampelten und redet­en miteinander auf dem Rücksitz.

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