1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Was nun die praktische Konstitution einer gesellschaftlichen Organisation angeht, ist man mit einem solchen antidogmatischen Motto gewissermaßen schlecht beraten. Denn eine gesellschaftliche Form verlangt ein Maß an Festigkeit und Identität, das durch bestimmte Bekenntnisse wie das eines Glaubens an Reinkarnation und Karma oder an die Existenz unsichtbarer Meister festgeschrieben werden könnte. Nun hat sich aber Steiner wie schon die frühen Theosophen solchen Festschreibungen verweigert. Gerade aber weil das Motto keine Festschreibung ist, sondern eine Handlungsanweisung, hängt es von der persönlichen Haltung jeder einzelnen Person ab, ob und inwieweit sie einen undogmatischen, offenen Habitus und eine entsprechende Erkenntnishaltung einnehmen kann und der Grad einer undogmatischen Haltung der Einzelnen wird ebenso von der entsprechenden Kultur in einer Gesellschaft gefördert oder gehemmt. Gleichwohl sind es immer bestimmte Inhalte, diese und nicht jene, die einer Beschäftigung, einem Studium, einer Forschung zugrunde liegen. Das geht nicht ohne Verbindlichkeit. Zugleich aber soll diese Verbindlichkeit, wie ich in der Folge und in diesen Studien insgesamt zeigen möchte, eine möglichst freie sein. Und frei heißt nicht beliebig oder willkürlich. Um ein Motto handelt es sich also, das die Lektüre eines jeden Satzes muss begleiten können.
Die Schwierigkeiten eines solchen Anspruchs auf Offenheit haben Helmut Zander zur Formel eines »Dogmas der Dogmenfreiheit« inspiriert. 70Der besprochenen Fundierungsordnung zwischen Dogmen im Sinne von (inhaltlichen) Lehraussagen und den Formen ihrer (methodischen) Überschreitung und der beschriebenen Aufgabe eines undogmatischen Umgangs damit wird er mit seinen Ausführungen indessen nicht gerecht. Auch konfundiert er in seinem retorsiven Argument die Bedeutungsebenen von Dogma im Sinne einer inhaltlichen Aussage inklusive des Geltungsanspruchs mit der eines Mottos im Sinne einer (regulativen, aber tendenziell offenen und immer prekären) Handlungsanweisung – der Aufforderung zu Beweglichkeit, zur Selbstständigkeit, zur Selbstverantwortung. Motto und Dogma sind nicht das selbe und die beiden Begriffe bewegen sich nicht auf derselben Ebene.
Gesellschaften wie die Anthroposophische indessen sind mit solchen Ansprüchen prinzipiell Gesellschaften an der Grenze zwischen Scheitern und Gelingen. Für Steiner jedenfalls bleibt die »Dogmatik« ein notwendiger Gegenbegriff, den er als Widerhalt braucht, von dem er sich aber unentwegt abstoßen muss. 71Und Dogmen im Sinn von Lehraussagen verstehen sich in seinem Kontext als Voraussetzungen, Mittel, Vehikel, aber nicht repetitiv zu zitierende Inhalte vermeintlich eigenständiger Erkenntnis. 72
Ästhetische Differenz, hermeneutische Distanz, dialogische Konstellation
Die bisherigen Darstellungen zusammenfassend und zugleich weiterführend, skizziere ich drei Lektüreregeln zu Aspekten der Darstellungsform, der Geltung und des Kontextes von Steiners (Lehr-)Aussagen, die sich in der Konsequenz weniger im Sinne von bloßer Ambiguitätstoleranz als einer explizit geforderten methodischen Auseinandersetzung ergeben. Es handelt sich gewissermaßen um Leseanweisungen, Lektüreregeln, die ich in Steiners Werk vorfinde und die den ambivalenten Status des Dogmas berücksichtigen, ja, von ihm gefordert werden, vielleicht kann man auch sagen: ihn erlösen.
Ästhetische Differenz: Darunter verstehe ich das Absehen vom semantischen Gehalt einer Aussage und die Aufmerksamkeit auf ihre Art oder Form. Da es besonders in Steiners Werk sehr unterschiedliche Arten oder Formen von Aussagen gibt, spreche ich sehr allgemein von einer Differenz, also einem »Absehen von« und einem heuristischen »Hinsehen auf«. Es ist ein Achten auf den Unterschied, bei dem zunächst offenbleibt, was die Art der Aussage jeweils ausmacht. Die Regel bedeutet in ihrem Kern einen Vorrang des Wie vor dem Was, wobei das Was nicht bedeutungslos wird. Dafür gibt es im anthroposophischen Kontext verschiedene Vorarbeiten, 73in konkreten Arbeitszusammenhängen wird Goethes Satz »Das Was bedenke, mehr bedenke Wie?« 74als Motto oder Orientierung gerne zitiert. Grundlegende Studien stehen aber aus.
Im konkreten Kontext einer historisch-kritischen Vorgehensweise, die ich in diesen Studien auch im Blick habe, findet die Regel ihre Anwendung beispielsweise darin, dass ich darauf achte, was Steiner aus einer bestimmten belegbaren literarischen Quelle (also etwa Scott-Elliots Schrift »The Story of Atlantis«) »gemacht« hat, also wie er sie aufgreift, verarbeitet, verwandelt, »kohärent verformt«. 75Ich komme auf das Beispiel in der letzten dieser Studien zurück. In der Differenz ist im Unterschied zur Quelle das Eigenständige zu finden, nicht in einer naiv prätendierten Kontextlosigkeit oder überzeitlichen »Schau« oder »Hellsichtigkeit«. Dies gilt, sofern es sich um historisch-quellenkritische Arbeiten im Kontext von Geschichte handelt. – Für die Philosophie gilt ähnliches, aber in anderer Art, nämlich als Erfahrung im Denkprozess, auf die folgendermaßen hingewiesen werden kann: »Worauf es vor allem ankommt, ist die daran [an der Bewegung des Begriffs, U.K.] gemachte Erfahrung, dass etwas im Bewusstsein vorkommt, welches dadurch, wie es auftritt, über das Bewusstsein hinausweist.« 76– Inwieweit historisch-quellenkritische Forschung und immanent-begriffliche Philosophie miteinander vermittelbar sind, ist eine eigene Frage, die bislang nicht systematisch bearbeitet wurde, durch Steiners Verständnis esoterischer historischer Forschung aber aufgeworfen wird. 77
Wohlgemerkt handelt es sich um eine Leseanleitung, also eine methodische Maxime, keine ontologische Aussage. Über den genauen Zusammenhang zwischen Darstellung und Gehalt etwa im Sinn des Satzes form follows function den man auch verstehen könnte als form shows meaning ist damit noch nichts gesagt. Das Wahre und das Schöne sind zwei unterschiedliche Kategorien und es muss einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben, wie Gehalt und Darstellungsart in Steiners Werk und grundsätzlich ineinander vermittelt sind.
Hermeneutische Distanz: In einer bekannten Formulierung aus Steiners »Philosophie der Freiheit« ist die Rede davon, man müsse sich der Idee (in unserem Kontext, nicht identisch damit: den Dogmen) »erlebend gegenüberstellen«, sonst gerate man unter ihre »Knechtschaft« (GA 4, 271, Ausgabe 19182). 78Es ist also nicht die Rede von einem erlebenden ›Eintauchen‹ oder einem Verlust der Distanz, sondern einer dezidierten Distanzierung, die gleichwohl den erlebenden Bezug, die Verbindung nicht aufgibt. 79Die Distanzierung schafft Abstand, macht insofern sichtbar und setzt zugleich im Sinne der stoischen oder phänomenologischen »Epoché« (= Enthaltung der Zustimmung oder Ablehnung) die Geltung einer Aussage außer Kraft. Der erlebende Bezug wiederum ist Grundlage des Verstehens, aber zugleich auch der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, die einer Aussage Geltung aus sich verleihen können. Er unterscheidet sich von einer unbeteiligten oder gar zynischen Distanziertheit oder Teilnahmslosigkeit. Er unterscheidet sich genauso vom distanzlosen Zitat, blinder Bestätigung. Das Stichwort der Knechtschaft bezeichnet den nicht gewünschten dogmatisch-abhängigen Bezug.
Dialogische Konstellation: Einen großen Teil seiner Aussagen trifft Steiner dezidiert in lauschender, antwortender, möglicherweise sogar responsiver 80Haltung gegenüber seinen Zuhörern. »Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.« (GA 28, 444, vgl. 451). Vermutlich gilt diese Abhängigkeit vom Kontext weit mehr, als Steiner explizit deutlich macht. Viele, wahrscheinlich alle der praktischen Gründungen etwa in der Pädagogik, der Medizin oder der Landwirtschaft gehen auf die Initiative oder Anfrage anderer zurück, auf die Steiner dann erst »sprudelnd« antwortet. Selbst die theosophische Karriere Steiners ist ohne die Initiative und permanente Unterstützung von Marie von Sievers, später Marie Steiner oder anderer wie Michael Bauer oder Carl Unger nicht denkbar. Steiners Werk ist deshalb in eminenter Form eingelassen in sein Umfeld, Teil von persönlichen Konstellationen 81und weitgehend nur von da her verstehbar. Konstellationsforschung in diesem Sinn ist ein Desiderat, weil sie die Konstellationen aufzuweisen vermag, in welchen sich Steiner bereits befindet. Das gilt schließlich nicht nur auf Personen bezogen, sondern ebenso auf das kulturelle Umfeld und die Bildungsinfrastruktur (also Steiners Bibliothek zum Beispiel).
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