»Was hältst du davon, wenn du mir zum Schluss unserer Reise noch etwas von dir erzählst? Sieh es als Abschiedsgeschenk«, forderte Luzia Matthias nach einer Weile auf.
An Stelle einer Antwort lenkte er die Ochsen an den Wegrand. Sein Blick wirkte unsicher, und er räusperte sich umständlich.
»Eigentlich habe ich mir das alles etwas anders vorgestellt«, begann er stockend und nahm seine Kappe ab. Er rieb vor Aufregung seine Hände und zwang die braunen Locken hinter die Ohren. »Weißt du«, sagte er und blickte auf die Kruppe der Ochsen vor ihm. »Eigentlich wollte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber die Zeit rennt mir einfach davon. Nein, also, ich hätte schon viel früher … Ich finde, du solltest wissen, dass dir noch eine andere Möglichkeit bleibt … dass du nicht nach Ravensburg musst, ach, zum Henker«, schimpfte er und scharrte mit den Füßen auf dem Holz des Wagens. »In solchen Dingen war ich noch nie besonders gut. Aber was ich dir sagen, nein, was ich dich fragen wollte: Willst du mich heiraten?« Jetzt war es heraus.
Luzia schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie glaubte, Matthias’ Gefühle für sie seien ebenfalls eher geschwisterlich. Was sollte sie jetzt sagen? Während sie sich räusperte, fühlte sie Matthias’ erwartungsvollen Blick auf sich.
»Das ist wirklich sehr nett von dir, und ich fühle mich sehr geschmeichelt«, begann sie. »Ich weiß, das halbe Dorf dachte, dass wir zusammengehören. Aber ich möchte noch nicht heiraten.« Und sicher keinen Kindskopf wie dich, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Aber ich weiß, dass auch du mich liebst, ich kann es fühlen«, gab Matthias heftig zurück.
»Doch es ist zuwenig für eine Ehe. Mir ist es zuwenig!«
Matthias verstand Luzia nicht. Sie empfanden mehr für einander als die meisten Eheleute, die er kannte. Was erwartete sie denn? Er nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz. »Dieses Herz schlägt nur für dich.«
Luzia wäre am liebsten im Erdboden versunken. Selten hatte sie sich so unbehaglich gefühlt. »Auch du wirst in meinem Herzen immer einen Platz haben – einen Ehrenplatz. Nur schlägt es für dich wie für einen Bruder.«
Er nickte stumm und gab Luzias Hand wieder frei. Dann lenkte er die Ochsen wieder auf den Weg und trieb sie an. Er sah starr geradeaus, während sich ein Orkan in seiner Brust Stück um Stück von seinem Herzen holte und es in ein Meer von Trauer zog. Wenigstens hatte er es versucht, tröstete er sich. Wenigstens das.
Für den Rest des Weges schluckten sie ihre Worte hinunter.
Bis Ravensburg war es jetzt nicht mehr weit. Schon kamen ihnen kleine und größere Wagen entgegen. Zumeist Bauern, die ihre Waren in die Stadt gebracht hatten.
»Sind diese Wagen Teil der Ravensburger Handelsgesellschaft?«, wollte Matthias wissen, als einige große Planwagen, die das Wappen der Stadt trugen, an ihnen vorüberfuhren. Seine Stimme klang müde, ansonsten ließ nichts seinen Schmerz erahnen.
Luzia nickte. Sie wusste, wie sehr sie ihn enttäuscht hatte, und freute sich, dass er wieder das Wort an sie richtete.
»Sie verkaufen ihre Leinwand bis ins ferne Spanien. Gleichzeitig bringen sie Gewürze, Felle und anderes nach Ravensburg. Von dort werden diese Waren dann weiterverkauft. Seit dreihundert Jahren besitzt Ravensburg das Stadtrecht und schon um 1270 wurde es zur freien Reichsstadt erklärt. Seither unterhält Ravensburg eine Münze und eine eigene Gerichtsbarkeit.«
Hinter einer Biegung tauchte endlich das Frauentor vor ihren Augen auf. Samt der hohen, grob gemauerten Stadtmauer war es Teil der wehrhaften Stadtbefestigung, die Ravensburg umgab. In unmittelbarer Nähe glitzerte der Grüne Gefängnisturm in der Sonne. Durch die grünglasierten Ziegel auf seinem Dach entstanden im Sonnenlicht eigenartige Muster. Sie jagten Luzia einen kühlen Schauer über den Rücken.
Schon von Weitem konnten die beiden sehen, dass für die Torwache ein langhaariger, recht ungepflegter Bursche verantwortlich war. Mit wütenden Bewegungen stach er in die Säcke, die auf einem wackeligen Handkarren standen und Rüben und Äpfel für eines der großen Patrizierhäuser enthielten. Der Bauer und seine junge Frau, denen das Gefährt gehörte, standen mit gesenktem Kopf daneben. Mit Entsetzen sah Luzia, dass auf dem Karren auch ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren saß. Nur wenige Zentimeter gingen die Stiche der Hellebarde an dem Kind vorbei. Das Mädchen schrie vor Angst. Schließlich rannte die Mutter zu ihm und riss das Kind vom Wagen herunter, was den Wachmann nur noch wütender machte. Mittlerweile war Matthias’ Ochsenkarren in Hörweite, und sie konnten vernehmen, wie der Torwächter die Leute anschrie:
»Aufsässige Bauern können wir in der Stadt nicht brauchen! Und faule Äpfel schon gar nicht!« Wieder und wieder stach er mit der Spitze seiner Hellebarde auf die Säcke ein.
Und dann bemerkte er Matthias und Luzia, die das Tor fast erreicht hatten.
Der Torposten drehte sich zu ihnen herum, und Luzia konnte seine blutunterlaufenen Augen sehen. Er hatte offensichtlich getrunken und war über die Maßen streitlustig. Mit einem gebellten Befehl wies er den Bauern an, seinen kleinen Karren zu wenden und ihn seitlich vom Tor abzustellen.
Dann waren sie an der Reihe. Matthias hielt den Wagen auf der Mitte des Weges an, wo der Torwächter ihnen breitbeinig die Weiterfahrt versperrte.
»Woher? Wohin?«, wurden sie barsch gefragt.
Luzia glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Wollte dieser unverschämte Kerl nicht einmal grüßen? Nun, dann musste sie es eben versuchen. Mit ihrem schönsten Lächeln sagte sie:
»Seid gegrüßt, Torwächter! Wir möchten heute Abend noch in das schöne Ravensburg.« Luzia erstickte beinahe an ihrer Freundlichkeit. Statt salbungsvoller Worte wollten ihr ein paar Zurechtweisungen über die Lippen kommen. Ihre Laune stand auf Sturm.
Der Torwächter lachte blöde, dabei entblößte er eine Reihe schadhafter Zähne. Der rechte Schneidezahn fehlte. »So, wollt ihr also? Da seid ihr heute nicht die Ersten. Was habt ihr überhaupt in unserer Stadt zu schaffen?«, bellte er gereizt.
Er trat einen Schritt an den Karren heran, auf die Seite, wo Matthias saß, aber er sah nicht ihn an, sondern musterte Luzia von oben bis unten. Ein hinterhältiges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Auf einmal kroch Luzia die Angst den Rücken hinauf und ließ ihr eine Gänsehaut wachsen.
»Wisst ihr eigentlich, dass die Roten einen extra Zoll zu entrichten haben?«
Luzia erschrak und bedeckte ihr Haar mit dem dünnen Schultertuch. Mit so einem hatte sie es also zu tun. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Matthias’ Kiefer spannte und er wütend die Zähne aufeinanderbiss. Seine Rechte ballte sich zur Faust.
Luzia legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Dabei schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Rasch sah sie sich um. Soviel sie wusste, bewachten die Posten das Tor immer zu zweit. Vielleicht wäre der Kollege dieses Grobians etwas zugänglicher. Doch außer den Bauersleuten, die ergeben neben ihrem Wagen standen, war niemand zu sehen. Nicht einmal die Bettler, die sonst vor den Toren lagen und um Almosen flehten.
»Absteigen!«, befahl der Wachmann rüde und rüttelte am Wagen.
Matthias Gesicht wirkte so angespannt, dass die dicke, blaue Ader, die über seiner Schläfe verlief, deutlich hervortrat.
»Bleib ruhig!«, flüsterte Luzia ihm zu. Sie hätte ebenso gern wie Matthias eine Faust im Gesicht des unverschämten Mannes gesehen. Aber das würde ihnen schlecht bekommen. Sie mussten ruhig Blut bewahren.
Sie war bereits vom Wagen gestiegen, aber Matthias ließ sich unendlich Zeit.
»He! Wird’s bald, oder soll ich nachhelfen?« Der Wachmann ging zum hinteren Teil des Wagens, öffnete ungefragt die Reisetruhe und stocherte mit seiner Hellebarde hinein. »Was ist das für ein Gerümpel?«
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