„Gigi ist gelb wie die Sonne, nicht wahr, Tatie Nenne?“
„Nein, sie ist rot wie der Abend“, korrigierte sie mich.
„Aber Papa ist blau, oder?“
„Ja, sogar dunkelblau.“
Die Bestätigung beruhigte mich ein wenig. Die Farben meiner Wörter waren anders als die meiner Großtante. War ich normal? Musste ich das Umdenken üben wie die Linkshänder, die in der Schule gezwungen wurden, die rechte Hand als Schreibhand zu verwenden? Ich holte meine Aquarellpalette und bemühte mich, auf meinem Zeichenblock ihren Buchstaben-Regenbogen zu malen, aber wie eine schwingende Schaukel kehrte mein eigener zu mir zurück: Mein I war safrangelb und nicht rot, mein A ultramarinblau, mein U blieb smaragdgrün, mein O braun wie die gebrannte Erde aus Siena und mein E milchig wie das Porzellanweiß Blanc de Chine aus der Tube meines Malkastens. Meine Vokale hatten unauslöschliche Farben, die ich nicht tauschen konnte. Sie waren genauso so fest implantiert wie die Haare auf meinem Kopf. Wenn ich probierte, sie heraus zu reißen, tat es weh.
Vokale
A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau – Vokale ,
eines Tages bring ich es aus Euch zur Welt:
A, schwarzes Leibchen von Fliegen im Feld ,
die um greulichen Dunst gepaart wie Schakale ,
Schattenbuchten; E Verführung von Rauch und Zelten ,
Gletscherstahl kühn, weiße Herren, kitzelnde Doldenrippen;
I Purpurtöne, ausgespienes Blut, Lächeln schöner Lippen ,
bevor sie sich zu Raserei und geilem Rausch entstellten;
U, Zyklen, göttliches Vibrieren der Tiefseespalten ,
Friede tierbesäter Haine, Friede der Falten ,
die im Studium der Alchemie die Stirnen füllen;
O, himmlische Posaune voll quietschender Gestänge ,
stille Räume quer durch die Zeiten und Engel:
– O Mega-O, violettes Brennen Ihrer Pupillen!
„Vokale“ (Voyelles) von Arthur Rimbaud, geboren in Charleville am 20. Oktober 1854. Übersetzung aus dem Französischen von Jan Volker Röhnert.
Wie in einem heiligen Ritual
wandert die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs in den
Sommermonaten Juli und August Richtung Meer.
Les vacances de Monsieur Hulot (1953)| Regie: Jacques Tati
Während der Zeit, die ich bei Tatie Nenne verbrachte, gehörte der Krieg zu meinem Alltag. Ich habe damals nicht begriffen, dass sie beide Weltkriege erlebt hatte, dachte nur, dass sie im Dauerkrieg mit den Deutschen lebte. Im Nachhinein fällt mir auf, dass ich, die sonst jeden Augenblick der Stille mit Worten füllte, bei ihr nie etwas nachfragte, sondern wie in der Schule immer aufmerksam zuhörte. Das war vielleicht auch ein Grund, weshalb sie mich ‚Ma Douce‘, Meine Sanfte, nannte, was alle anderen merkwürdig fanden, denn es passte einfach nicht zu dem Wirbel, der ich sonst war.
Die Deutschen waren Tatie Nennes Hauptthema. Sie lehrte mich ihre deutschen Gebote, so wie sie mir das Beten beibrachte: „Deine Eltern sind mit der Religion nicht sehr zuverlässig!“
Jeden Abend, bevor ich das hohe Bett besteigen durfte, musste ich im Knien das auswendig gelernte Kindergebet rezitieren: „Jesuskind in meinem Herzen, wer hat dich gebracht? Die Gnade Gottes. Wer hat dich weggenommen? Die Sünde. Geh weg, böse Sünde, komm zurück, Jesuskind! Mein Herz wird nicht mehr sündigen.“
Nach diesem Ritual, das sie überwachte wie die Milch auf dem Feuer, kamen die Deutschen: „Ma Douce, du musst wissen, dass sich viele Deutsche im Krieg hilfsbereiter zeigten als manche Franzosen im Dorf. Sie waren unsere Feinde, benahmen sich aber oft wie richtige Gentlemen und erwiesen sich meistens gebildeter als die hier gebliebenen Männer.“
Es fällt mir auch heute noch schwer, ihre Kriegserzählungen richtig einzuordnen. Ich steckte damals alle Deutschen in dieselbe Kriegstasche. In meinem kleinen Kopf, den Tatie Nenne dank der Wohltaten des gekochten Hirnes mit grauen Zellen gefüllt hatte, gab es diesen einen übermächtigen Begriff: Die Deutschen. Egal, wo ich mich befand, die Deutschen waren da. Wenn ich auch das Kriterium der zeitlichen Differenzierung nicht verstand, so war mir dagegen die örtliche sehr früh präsent. Es gab die Deutschen aus dem Norden, die sie Preußen nannte, und die aus dem Süden.
Meistens sprach Tatie Nenne, wenn sie von den Deutschen erzählte, von La Guerre 14/18, dem Ersten Weltkrieg, der ihre Jugend total verunstaltet hatte. Sie war 25 Jahre alt, als 1914 die deutschen Soldaten in Frankreich einmarschierten: „Wir sahen in Inaumont, dem Dorf an der belgischen Grenze, wo ich meine Schule hatte, viele deutsche Regimente vorbeigehen. Die einen, groß und imposant, marschierten wie ein einstudiertes Ensemble. Die Uniformen saßen perfekt. Sie hinterließen einen Eindruck der Furcht und des Respekts. Das waren die aus dem Norden, die Preußen. Mirabeau sagte zu Recht über sie ‚Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt’. Die anderen kamen uns nicht so groß vor, machten einen lockeren Eindruck. Ihre hellblauen Uniformen ließen zu wünschen übrig. Da fehlten oft Knöpfe, und man konnte sehen, dass sie nicht so viel Wert auf Sauberkeit legten wie die Preußen. Das Komischste geschah zu Weihnachten: Einige trugen einen Tannenbaum auf der Schulter. Das kannten wir damals nicht. Es waren die Bayern. Dieses lockere Auftreten dämpfte den Schauder, der uns vor diesem martialischen Aufmarsch befiel. Ihnen verdanken wir seitdem unsere Weihnachtsbäume.“
Mémère Irène, meine Großmutter mit den kannibalischen Kaninchen, die Mutter meines Vaters, erschwerte meine Verwirrung mit Anekdoten, die sie in ihrem Dorf über die Deutschen aus dem Krieg von 1870 gehört hatte, nämlich dass die Preußen schon im Siebziger Krieg eine Wucht gewesen seien. Die Erscheinung der auf riesigen Pferden montierten Preußen mit ihren spitzen glänzenden Stahlhelmen, ihren aufwendigen, perfekt sitzenden Uniformen, in dem winzigen Dorf der Ardennen, in dem ihre Mutter, meine Urgroßmutter, 1870 lebte, habe ungefähr der Ankunft der spanischen Konquistadoren bei den Azteken entsprochen. Eine kleine ältere Dorfbewohnerin habe sich strikt geweigert, einen monströsen preußischen Offizier, der ihr sein ‚billet de logement‘, eine offizielle Unterkunftserlaubnis, vorzeigte, unterzubringen: „Non, non, das ist unmöglich!“, habe die arme Frau geschrien. „Das geht nicht!“
Als der Soldat von seinem hohen Ross abstieg, um die Angelegenheit zu klären, habe die erschrockene Dame erleichtert gerufen: „Oh, wenn das Ganze demontiert werden kann, dann wird es wohl durch die Tür passen!“
Zur totalen Verwirrung führten bei mir schließlich Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg, den meine Familienmitglieder auch durchgemacht hatten. Wie oft hatte uns meine Mutter geschildert, wenn wir, Titi, Gigi und ich, in den großen Sommerferien auf dem Rücksitz des eierschalenfarbenen Peugeot 404 über die unendliche Fahrt ans Meer klagten, wie sie am 12. Mai 1940 mit einer Matratze auf dem Dach des Familienwagens, eines Renault 6 CV, den Vogelkäfig und zwei mit dem Tabak aus dem Laden ihrer Eltern gefüllten Tontöpfen, von Poix-Terron, ihrem Geburtsort in den Ardennen, Richtung Südfrankreich über die Demarkationslinie in das Zentral-Massiv geflohen waren. Ihr Vater Eugène, trotz des in den Schützengräben von Verdun verlorenen Beins, saß am Steuer. Neben ihm, steif wie eine Stricknadel, meine Großmutter Marcelle. Mit einer Landkarte Frankreichs auf dem Schoß führte sie die Familie in die blau gemalte freie Zone. Die Tante Adrienne, den Kopf erhoben, den Blick versunken in die Ferne, thronte hinten zwischen den Kindern, was auf Anhieb jeden möglichen Streit zwischen meiner Mutter und ihrem Bruder im Keim erstickte.
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