Doch wie auch immer es aussehen mochte, für Isabel und Elisabeth war das Sommerhaus eine Quelle unendlicher Freuden gewesen, denn unter dem niedrigen Dach hatten sie einen winzigen Speicherraum entdeckt. Er war gerade hoch genug, daß die beiden Mädchen aufrecht darin sitzen konnten. Ein herrliches Versteck für sie, dessen Zugang keinem anderen bekannt war.
Hierhin hatten sie sich zurückgezogen, wenn sie vor den Erwachsenen ihre Ruhe haben wollten. Hier hatten sie sich ihre kleinen Geheimnisse anvertraut, ihre kostbarsten Schätze aufbewahrt und heimlich die Leckerbissen verspeist, die sie in der Vorratskammer gestohlen hatten oder die ihnen von der gutherzigen Köchin zugesteckt worden waren.
Isabel brauchte nur wenige Sekunden, um an der Rückseite des Sommerhauses hochzuklettern, die Luke zu dem niedrigen Speicher zu öffnen, hindurch zu kriechen und die Luke hinter sich wieder zu schließen.
Überrascht stellte sie fest, daß der kleine Raum einen unerwartet sauberen Eindruck machte. Den Puppendeckchen, Büchern und leeren Einmachgläsern mußte jemand in allerjüngster Zeit ein großes Seidenkissen hinzugefügt haben, das Isabel nie zuvor gesehen hatte.
Doch sie zerbrach sich nicht den Kopf, wie es hierher gekommen sein konnte. Sie legte es unters Fenster und ließ sich darauf nieder.
Das Fenster war eigentlich kein Fenster, sondern eine Öffnung, die Elisabeth und sie in die Holzwand gesägt hatten. Das wuchernde Geißblatt verdeckte die Freveltat, und nachdem Isabel nun einige der trichterförmigen Blüten beiseite geschoben hatte, bot sich ihr ein umfassender Blick auf den ganzen Garten.
Ein Stück entfernt sah sie ihren Onkel und ihre Tante auf der Terrasse stehen. Immer noch erschienen neue Gäste, begrüßten die Gastgeber und schritten darin die breite graue Steintreppe hinunter, um sich zu den anderen auf dem Rasen zu gesellen.
Am Rande des Spielfeldes stand Elisabeth in ihrem neuen Kleid aus pinkfarbenem Taft und unterhielt sich mit zwei jungen Gentlemen. Trotz der Entfernung konnte Isabel sehen, daß ihre Kusine sehr nervös war und ihre behandschuhten Hände unruhig mit dem Griff des Sonnenschirms spielten.
Zahlreiche Grüppchen hielten sich zwischen den Rosenbeeten auf. Der Lord Lieutenant der Grafschaft, herrisch und lauttönend, das fleischige Gesicht von der Hitze gerötet, stolzierte von Gruppe zu Gruppe und ließ sein dröhnendes Lachen hören.
Isabel sah den Vikar von Rowan im Gespräch mit dem Bischof der Diözese, dessen juwelenbesetztes Kreuz, bei jeder Bewegung der imposanten, in rote Seide gekleideten Gestalt in der Sonne funkelte.
Isabel lächelte. Es bereitete ihr eine diebische Freude, die Leute zu beobachten, ohne von ihnen gesehen zu werden, und ein Gefühl der Erleichterung erfaßte sie bei dem Gedanken, für die nächsten Stunden vor der Begegnung mit ihrem Onkel sicher zu sein.
Sie rückte sich auf dem Kissen zurecht, stützte die Ellbogen auf den Rand des »Fensters« und schmiegte das Gesicht in beide Handflächen, als sie plötzlich ein Paar sah, das sich aus der Zuschauergruppe am Rand des Spielfeldes löste und direkt auf das Sommerhaus zukam.
Die Frau erkannte Isabel sofort.
Elisabeth schwärmte für Lady Clementine Talmadge schon seit Jahren, während Isabel ihr gegenüber stets eine gewisse Abneigung verspürte und ihr so gut wie möglich aus dem Weg ging.
Lady Clementine wirkte hinreißend in der Krinoline aus blass gelbem, durchscheinendem Organdy über einem moirierten Seidenunterrock. Den breitrandigen Hut schmückten gelbe Federn und um ihre Schultern lag ein Schal aus hauchdünnem, mit feinen Goldfäden durchwirktem Flor. Dunkles Haar umgab ein ovales Gesicht mit sehr eindrucksvollen, leicht schräg gestellten Augen.
Etwas Sinnliches ging von dieser Frau aus und verlieh ihrer Erscheinung eine seltsame Faszination. Selbst Isabel spürte das, und unwillkürlich mußte sie denken, daß die Männer sich beim Anblick Lady Clementines buchstäblich herausgefordert fühlen mußten.
Es war unmöglich, die Rundungen der wohlgeformten kleinen Brüste unter dem eng geschnürten Mieder zu übersehen, und auch die Steifheit der Krinoline vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, daß es sich bei Lady Clementine um eine sehr lebensgierige und liebeshungrige Frau handelte.
Etwas Katzenhaftes und Ungebändigtes lag in der Art, wie sie sich bewegte, und unter der glanzvollen Oberfläche lauerte unübersehbar die nackte Sinnlichkeit. Sie war die Tochter eines Herzogs und verheiratet mit einem hochgestellten Edelmann, eine Person, die zu den angesehensten Leuten der Grafschaft zählte; dennoch war der Blick, den sie dem Mann an ihrer Seite zuwarf, gierig und von einer schamlosen Direktheit.
Isabels Aufmerksamkeit hatte bis dahin nur Lady Clementine gegolten, aber dieser sonderbare Blick, dessen Bedeutung das junge Mädchen nicht einmal ganz verstand, bewirkte, daß sie nun ihr Augenmerk auf den Begleiter Lady Clementines richtete.
Isabel zuckte zusammen, als sie in ihm den Mann erkannte, der die Halle durchquert hatte, als sie vorhin die Treppe hinunter gekommen war. Der Mann, in dessen Augen der Haß gebrannt hatte und dessen ganze Erscheinung Verachtung und Gleichgültigkeit ausströmten.
Die beiden näherten sich dem Sommerhaus, und während Isabel dem Klang der Schritte auf der hölzernen Terrasse lauschte, hörte sie Lady Clementine sagen: »Rupert, das ist ja wirklich eine Überraschung! Ich hatte keine Idee, daß ich dich heute hier sehen würde!«
»Ich bin vergangene Nacht von London abgefahren«, erwiderte Sir Rupert. »Ich mußte dich unter allen Umständen sprechen. Etwas Unvorhergesehenes ist eingetreten.«
»Um Himmels willen, Rupert, was denn?« In Lady Clementines Stimme war eine Spur von Besorgtheit. »Du siehst so verändert aus, scheinst gar nicht mehr du selbst zu sein.«
»Dazu habe ich auch allen Grund.« Sir Rupert griff nach dem Handgelenk seiner Begleiterin und hielt es fest. »Clementine, ich brauche unverzüglich eine Frau!«
Lady Clementine stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Rupert, was soll das heißen?«
»Es heißt das, was ich sage«, antwortete er. »Ich muß heiraten - und zwar so rasch wie möglich.«
»Aber warum? Ich begreife nicht, Rupert, um Gottes willen, so rede doch endlich!«
»Es ist ein Befehl der Königin«, sagte Sir Rupert, und seine Stimme klang verbittert. »Ihre Majestät wurde offensichtlich über unser Verhältnis informiert - jedenfalls scheint sie genauestens über uns beide Bescheid zu wissen.«
»Natürlich, Ihre Majestät wurde informiert«, wiederholte Lady Clementine. »Und... und es kommt nur eine Person dafür in Frage - meine Schwiegermutter! Sie hat uns nachspioniert. Dessen bin ich ganz sicher. Ich habe es an der Art und Weise gemerkt, wie sie mich anschaut, an den Bemerkungen, die sie in meiner Gegenwart macht. Mein Gott, wie schrecklich. Und ich glaubte, niemand hätte eine Ahnung.«
»Kann es nicht auch dein Mann gewesen sein, der...« begann Sir Rupert.
»Nein, nein, nicht Montagu. Er weiß bestimmt nichts. Der ist doch ständig betrunken. Nicht einmal wenn es sich direkt vor seiner Nase abspielte, würde er was bemerken. Aber bei meiner Schwiegermutter ist das anders. Sie hat mich schon immer gehaßt. Ständig behauptet sie, Montagu habe erst nach unserer Hochzeit mit dem Trinken angefangen.«
»Und war es so?«
»Wie soll ich das wissen?« fragte Lady Clementine trotzig. »Ich bin vorher nicht dabei gewesen.«
Sir Rupert lachte. Es war kein vergnügtes Lachen, aber immerhin ein Lachen.
»Ich freue mich, daß. ich so erheiternd für dich bin«, erklärte Lady Clementine scharf.
Sir Rupert lachte erneut.
»Nein, Clementine, meine Liebe, du bist nicht erheiternd«, sagte er, »aber zufällig reizte deine Naivität meinen Sinn für Humor. Nun schau nicht gleich so gekränkt, wenn ich dich ein wenig necke! Du bist viel zu schön, um darüber hinaus noch andere Qualitäten zu benötigen. Und am wenigsten erwartet man von dir, daß du erheiternd bist.«
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