Er konnte es nicht vergessen.
Rory wachte gegen Mittag auf, er hatte die Bettdecke weggestrampelt, und sein Körper war trotz der Oktoberkälte von einem Schweißfilm überzogen. Das Bein, das er verloren hatte, pochte, als befände es sich noch an dem zerbeulten Stumpf unterhalb seines Knies. Er stand auf und zog sich rasch an. Sein Zimmerfenster war beschlagen, und die vier Scheiben schimmerten blassgolden. Bilder ohne Rahmen bedeckten die Wand. Tiere des Feldes, Vögel der Luft – ihre Körper geflammt, wo die Sonne auf sie fiel. Sie erinnerten ihn daran, welcher Tag war: Sonntag.
Er wusch Achseln und Gesicht, gelte das Haar zurück und betupfte seine Halskuhle mit Grannys hausgemachtem Eau de Cologne, das brannte. Er zog ein weißes Hemd an, das man bis zum Hals zuknöpfen konnte, legte eine schwarze Krawatte um und setzte die Melone seines Großvaters Anson auf. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel – es sah aus, als hätte sich über Nacht ein ganzes Jahrzehnt unter seiner Haut eingenistet. Die Haut unter seinen Augen schimmerte, als hätte ihm jemand einen Fausthieb verpasst.
Er saß auf der Veranda und kratzte den Schlamm von seinen Stiefeln, als Granny herauskam. Sie balancierte eine Pastetenform in ihrer Armbeuge.
»Ich nehme das«, sagte er und sprang auf.
»Ich bin vierundfünfzig Jahre alt. Ich bin nicht invalide.«
Sie saß steif und mit geradem Rücken in dem PS-starken Fahrzeug, als wäre es eine Pferdekutsche. Man konnte sich problemlos vorstellen, wie sie auf einer Wells-Fargo-Postkutsche fuhr, eine kurzläufige Schrotflinte im Schoß. Als er hinter das Steuer glitt, blickte sie ihn an.
»Hast du wieder schlecht geträumt?«
»Nein«, log er.
»Du solltest die Tinktur nehmen, die ich für dich zubereitet habe.«
»Das tue ich.«
»Von wegen, du kippst sie immer in das Astloch in der Bodendiele.«
Rory ließ den Motor an und fragte sich, woher sie so etwas wissen konnte.
Innerhalb einer Stunde waren sie unten im Tabakland, Quadrat um Quadrat hügeliger Felder, die links und rechts vorbeizogen, der rote Lehmboden wie Wunden zwischen den Bäumen. Riesige, grob gezimmerte Trocknungsscheunen schwebten oben auf den Hügeln wie verwitterte Archen, die Brightleaf-Tabak enthielten, der die weißen Zigarettenhüllen füllen würde, die mit Trucks im ganzen Land verteilt wurden. Chesterfields und Camels und Lucky Strikes. Pall Malls und Viceroys und Old Golds. Der Highway schlängelte sich durch Winston-Salem, wo das zwanzigstöckige Reynolds-Gebäude wie eine Miniatur vom Empire State Building in den Himmel ragte. Es war nach R. J. Reynolds benannt, der Zeitung lesend auf einem Pferd in den Ort geritten war und das Zigarettenpäckchen erfand, was ihn zum reichsten Mann des Staates gemacht hatte.
»Es heißt, es sei das höchste Gebäude in beiden Carolinas«, sagte Rory.
Granny saugte an ihren Zähnen und trug eine verächtliche Miene zur Schau, wie sie es immer tat, wenn sie gezwungen war, den Berg zu verlassen.
»Das is’n Fliegenschiss verglichen mit der Höhe, in der mein Haus steht, oder?«
Sie fuhren an Greensboro und Burlington vorbei, wo sich riesige Fabriken aneinanderreihten, deren Schornsteine Tag und Nacht schwarzen Rauch ausstießen, während weiter unten hübsche, kleine Städte mit Straßenbahnen und straff gespannten Telefonleitungen erblühten. Sie fuhren vorbei an Durham, dem Sitz von Duke Power, das beinahe den gesamten Staat mit Strom versorgte, dann hinein nach Raleigh, wo sie die von Eichen beschatteten Straßen entlangfuhren, und schließlich hinauf zur staatlichen Irrenanstalt namens Dix Hill. Es war ein riesiger, doppelflügeliger Sandsteinbau, der über der Stadt aufragte, vierstöckig, die schmalen Fenster dicht an dicht wie mittelalterliche Schießscharten. Der Mittelbau sah aus, als wäre er von Griechen errichtet worden, vier riesige Säulen, die ein dreieckiges Gesims trugen, mit einer Glaskuppel obendrauf.
Sie unterschrieben die Papiere, setzten sich und warteten. Als die Krankenschwester kam, um sie abzuholen, ging Rory als Erster hinein. Seine Mutter durchquerte leichtfüßig den Besucherraum, die Sohlen ihrer weißen Leinenschuhe kaum hörbar. Ihre Gestalt war dementsprechend, beinahe durchscheinend wie ein Windhauch. Sie konnte im selben Raum mit einem sein, ohne dass man es bemerkte. Ihr schwarzes, mit silbernen Strähnen durchzogenes Haar war nach hinten gekämmt und reichte ihr bis zur Taille. Ihre Haut war geisterhaft weiß, so als bestünde sie aus Licht. Als könnte man, wenn man nur kräftig genug zwinkerte, ihre Knochen sehen.
»Wirst du gut behandelt?«, fragte Rory.
Sie nickte und nahm seine Hände. Ihre Augen strahlten so hell bei seinem Anblick, dass sie ihm Löcher ins Herz bohrten. Sie sagte nichts. Sagte nie etwas. Sie sei schon immer ein stilles Mädchen gewesen, hatte Granny ihm erzählt, das in seiner eigenen Welt lebte. Verrückt , wie manche behauptet hatten. Sonderlich . Dann kam der Abend, als Gaston ermordet worden war, und sie sprach nie wieder ein Wort. Rory hatte noch nie ihre Stimme gehört. Er kannte ihren Geruch, wie bevorstehender Regen, und die langen, v-förmigen Sehnen, aus denen ihr Hals bestand. Er kannte die winzigen Fältchen von der Größe eines Kolibrikrallenfußes in ihren Augenwinkeln. Er wusste, wie sich ihre Hände anfühlten, so leicht und kühl. Hände, die mit einer Nagelklaue einem Mann ein Auge herausgerissen und den Augapfel anschließend in der Tasche ihres Kleids versteckt hatten.
Sie waren zu dritt gewesen, Night Riders, alle drei mit Sackkapuzen. Es war das Jahr 1930 gewesen. Die Männer hatten sie mit dem Sohn eines Fabrikbesitzers in einer leeren Hütte am Fluss erwischt. Der Ort war aufgegeben worden, dazu bestimmt, überschwemmt zu werden, wenn das Wasser stieg. Sie prügelten den Jungen mit Axtstielen zu Tode, aber sie wehrte sich, fand eine Nagelklaue in einem Haufen Werkzeug, gespalten wie eine Zunge. Sie teilte aus, so gut sie konnte.
Und erbeutete ein Auge.
Keiner von ihnen wurde je erwischt.
Der Junge, den sie totgeschlagen hatten, hieß Connor Gaston. Er sei ein seltsamer Kerl gewesen, sagten die Leute. Aber klug. Er hatte Vögel gemocht, Violine gespielt. Sein Vater leitete die Strumpffabrik am Ort. Ein Junge mit beträchtlichen Privilegien, wohingegen sie die Tochter einer Prostituierten war. Wahrscheinlich war sie selbst eine, hieß es. Lebte sie nicht in einem Hurenhaus? War sie bei den Blicken und dem Aussehen nicht schon volljährig? Hatte sie den Jungen nicht dorthin gelockt, damit er zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde?
Sie lehnte es ab, sich zu verteidigen. Ein paar behaupteten, ein kräftiger Schlag auf den Kopf hätte sie verstummen lassen. Andere meinten, es sei Gott gewesen. Die Ärzte waren sich nicht sicher. Sie schien mit einem Bein in einer anderen Welt zu stehen. Sie hatte die Schwelle zum Tod teilweise überschritten. Die Gastons wollten nichts mit ihr zu tun haben, begraben und vergessen. Dieser Schandfleck auf dem Namen ihres Sohnes. Der Richter hatte sie für geistesgestört erklärt und sie dem Staat übergeben. Ihr Bauch war bereits zu sehen gewesen, als man sie fortgebracht hatte. Rory kam im Krankenhaus von Dix Hill zur Welt. Die Gastons waren verschwunden – hatten ihre Sachen gepackt und waren nach Connecticut zurückgekehrt, ohne Nachsendeanschrift.
Rory und seine Mutter saßen lange Zeit am Tisch und hielten Händchen. Rory stellte ihr Fragen, und sie nickte oder schüttelte den Kopf, als wäre sie zum Sprechen zu schüchtern.
»Irgendwelche neuen Bilder?«
Sie nickte und nahm den Notizblock von ihrem Schoß. Es waren hauptsächlich Vögel, Schornsteinsegler und Raubwürger und Rauchschwalben. Spechtmeisen, bläulich mit rotem Bauch, und eisengraue Goldhähnchen mit rubinrotem Scheitel. Carolinazaunkönige, haselnussbraun mit weißen Streifen über den Augen, rotschwarze Stare, die weiß gesprenkelt waren. Walddrosseln mit zimtfarbenen Schwingen, die helle Brust braun gesprenkelt, und Seidenschwänze mit zitronenfarbener Brust und einer schwarzen Maske über den Augen. Rotkardinale, mit einer hohen Haube auf dem Kopf, und rotschwänzige Habichte, die todbringend über der Erde kreisten.
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