Ein schöner Tag, dachte ich und seufzte kaum hörbar auf. Ich schloss die Augen und genoss ein Weilchen die warme Luft auf meiner Haut. Bis ich Mutter rufen hörte, ich solle nicht träumen, sondern weitergehen.
Wie an jedem anderen Morgen rüttelte mich Mutter wach. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das noch matte Tageslicht an, das durch den schmalen Spalt der beiden nur unzureichend zugezogenen Vorhänge in mein Zimmer fiel. Dann zog ich die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass Mutter sie mir wegriss. Eine alltägliche Gewohnheit wie das gemeinsame Eindecken des Abendtischs, ein schelmisches Spiel. Ich versteckte mich unter der Decke, und sie zerrte die Decke fort, nahm meinen Kopf in beide Hände und drückte ihre Lippen kräftig auf meine Stirn.
Das tat sie auch an diesem Morgen, aber nur mit halber Entschlossenheit. Ich schaute sie an. Ein Streifen Licht fiel auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren ohne jeden Glanz. Ich wollte ein Blinzeln und ein Lächeln erkennen, aber sie blinzelte und lächelte nicht. Ihr lockiges Haar war noch ungekämmt. Außerdem war sie noch nicht für den Tag angezogen, trug lediglich Nachthemd und Nachtrock und den weißen Morgenmantel darüber.
»Dein Vater ist fort«, sagte sie leise.
»Vater ist fort?«
»Du weißt, er hatte keine Wahl.«
»Er musste schon gehen?«
»Ja.«
»Ist er in der Nacht gegangen?«
Mutter nickte.
Ich atmete tief durch. Empörung und Enttäuschung stiegen in mir auf, sie schmeckten bitter. Ich dachte an unser unterbrochenes Gespräch und die Ankündigung seiner Abreise. Hatte er schon zu diesem Zeitpunkt gewusst, wann er aufbrechen musste? Waren es Worte des Abschieds gewesen, die er aussprechen wollte, die jedoch unausgesprochen geblieben waren? Und wollte er nur deshalb noch einmal einige Tage mit uns verbringen? Um sich gebührend verabschieden zu können?
Aber er hatte sich nicht von mir verabschiedet, er war davongeschlichen wie ein Dieb.
Mutter zog die Brauen in die Höhe. »Er war noch einmal bei dir im Zimmer und hat nach dir gesehen. Doch er wollte dich nicht wecken. Glaub mir, Hans, nur deswegen ist er ohne Gruß gegangen.«
»Wann kommt er wieder?«
»Ich will dich nicht belügen, ich weiß es nicht.«
»Sind die anderen Väter auch fort?«
»Viele Väter sind fort, ja, einige schon seit Tagen, andere sogar schon seit Wochen. Wiederum andere folgen ihnen nun.«
»Also kämpfen wir«, stellte ich fest. »Die Polen haben wieder provoziert. Muss Vater dorthin? Nach Polen?«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Ist es geheim?«
»Das ist es, ja.« Mutter presste die Lippen zusammen. Schließlich wandte sie sich von mir ab, zog die Vorhänge beiseite und ließ das Tageslicht vollends herein. Feine Staubkörnchen tanzten in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens. »Steh auf und wasch dich, Hans. Du musst zur Schule.« Nach dieser Aufforderung ging sie in die Küche.
Mein Zimmer war ein Durchgangszimmer, mit einem Fenster zur Straße und zwei Türen; eine führte in die Küche und die andere in den winzigen Waschraum mit der Toilette. Dorthin ging ich, nachdem ich aufgestanden war und der heiseren Stimme des Radiosprechers in der Küche gelauscht hatte, ohne genau verstehen zu können, was er sagte. Ich nahm Seife und ein Handtuch aus dem Regal, zog mich aus und wusch mich. Wie immer waren zuerst mein Kopf und die Haare dran, danach mein Oberkörper, die Beine und zum Schluss mein Unterleib. Ein Ritual, das Mutter mir beigebracht hatte. Mein Leben schien aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten zu bestehen. Auch der Gang zur Schule und die zweimal in der Woche stattfindenden Treffen des Deutschen Jungvolks waren Teile davon.
Nachdem ich angezogen war, ging ich in die Küche und umarmte Mutter. Ich sog ihren Körpergeruch ein und einen eigentümlichen Duft nach würziger Seife, den ich schon immer gemocht hatte. Einen Augenblick lang verharrte sie, ohne die Umarmung zu erwidern. Ich wurde unsicher, doch ich ließ sie nicht los. Ich schmiegte mich noch fester an sie, stellte mich auf die Zehenspitzen und barg mein Gesicht in ihrer Achselhöhle. Die Sekunden quälten sich dahin, jede einzelne ließ mich die Sorge der Mutter spüren, bis auch sie mich umarmte.
»Hänschen, mein hübscher Junge«, sagte sie zärtlich.
Ich war erleichtert. Sie strich mir über den Kopf. »Mein hübscher, großer Junge.«
Gewiss war ich in ihren Augen schon recht groß, aber nur, weil sie mich groß sehen wollte. Ich ließ sie gewähren, obwohl ich es besser wusste. Jeder Hinweis darauf, dass ich in meiner Klasse zu den Kleinsten zählte, wäre sinnlos gewesen. Letztlich war ohnehin nur wichtig, was Mutter glaubte.
Aber trotz meines Mangels an Größe meinte es die Natur offenbar gut mit mir, glich sie diesen Makel doch aus, indem sie mich mit den breiten Schultern und kräftigen Armen meines Vaters, einem schönen Gesicht und blondem, dicht gewachsenem Haar bedacht hatte. Meine braunen Augen waren die Augen meiner Mutter, sie blickten warm und freundlich. Dass mein Profil eine ähnliche Schärfe wie die des Jägers auf dem gusseisernen Bild in unserem Esszimmer besaß, lag an meinen ausgeprägten Wangenknochen, dem spitzen Kinn und der Nase mit dem geraden Rücken.
Viele mochten mein Gesicht, das bekam ich oft zu hören. Auch von meiner Lehrerin und Frau Schöneweck, die Besitzerin der kleinen Bäckerei in unserer Straße. Während die Lehrerin es nur verhalten andeutete, wurde Frau Schöneweck deutlicher.
»Herrgott, Hans, dein Aussehen ist ein Geschenk unseres Schöpfers. Wirst sehen, schon bald werden die Mädchen dir nachstellen. Und ein Seufzen wird durch ihre Reihen gehen, wenn sie dich nur anschauen«, sagte sie jedes Mal, wenn ich samstags bei ihr im Laden auftauchte und Schrippen kaufte.
Ich nahm das Gesagte eher verlegen als stolz hin. Stolz war ich nur, wenn ich Vater gefiel. Eines Abends, als ich durch die Küche in mein Zimmer ging, hörte ich ihn mit Mutter im Esszimmer reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür und lauschte. Was ich vernahm, beseelte und wärmte mich. Mit gedämpfter Stimme sagte Vater, dass ich ein kühnes Gesicht mit scharf geschnittenen, klaren Linien habe, die nicht einmal der begnadetste Künstler besser hätte zeichnen können. Es sei das Gesicht seines Vaters Hagen, der im ersten Weltkrieg gefallen war. Außerdem sei er froh, dass ich auch charakterlich gut geraten sei, ein Junge, der leicht erlernen würde, dass ein Mann alles, was er beginne, mit Würde und Anstand erledigen müsse. Am Schluss dankte er Mutter, dass sie ihm einen so prächtigen Sohn geschenkt habe.
Als ich an diesem Morgen mit dem Schulranzen auf dem Rücken vor unserem Haus stand, um mich auf den Weg in die Mittelschule zu machen, kamen mir Vaters Worte noch einmal in den Sinn. Doch dieses Mal begeisterten sie mich nicht. Stattdessen spürte ich einen Kloß im Hals. Ich schaute noch einmal in den zweiten Stock hinauf. Mutter stand am Küchenfenster und hob die Hand, was ihr sichtlich schwerer fiel als all die Tage und Wochen zuvor.
Bevor ich mich abwandte, erwiderte ich ihren Gruß und bemühte mich um ein aufmunterndes Lächeln.
Natürlich war das schnörkellose Gebäude mit der grauen Fassade und dem aus Eisen gegossenen Relief über der Haustür, auf dem das Baujahr mit 1867 angegeben wurde, nicht unser Haus, auch wenn ich es immer als unser Haus bezeichnete. Wir wohnten nur darin. Und mit uns noch andere Mieter. Im Parterre lebten die Zwillingsschwestern Margarethe und Ilse mit deren Mann Toni; alle drei waren noch recht jung, hatten die zwanzig erst kürzlich überschritten. Ilse war blind, ob von Geburt an oder ob eine Krankheit, vielleicht sogar ein Unfall ihr das Augenlicht geraubt hatte, wusste ich nicht. Ich erinnere mich allerdings noch genau, wie sehr mich ihre milchigen Augen faszinierten. Gleich, wo ich ihr begegnete, im Treppenhaus, im Hinterhof oder auf der Straße, immer suchte ich ihren Blick, der im Nirgendwo zu schweben schien. Aber trotz ihrer Behinderung wirkte Ilse mit ihrem aufreizenden Gang, den schönen Hüten und farbenfrohen Kleidern aus dünnem Stoff, die sie bei jedem Wetter trug, liebreizender und lebendiger als ihre Schwester, um deren dünne Beine stets nur dunkle Röcke flatterten und die ihren Rücken immer ein wenig krümmte, als wolle sie keine Blicke auf ihre großen Brüste ziehen. Margarethe wirkte unauffällig und spröde, wie eine Blume kurz vor dem Verwelken. Dann war da noch Frau Buchner, eine ältere Frau mit strenger Miene, die über uns lebte. Sie verließ ihre Wohnung nur, wenn sie es musste, weshalb ich sie selten zu Gesicht bekam. Ganz im Gegensatz zu unserem glatzköpfigen Blockleiter, der unterm Dach wohnte und stets geschäftig war, weil er keine Versammlung, keine Aktivität seiner Partei in unserem Viertel verpassen wollte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrierte Herr Tremmel seine Begeisterung für die politische Entwicklung in unserem Land, indem er die Hacken fest zusammenschlug, den rechten Arm mit flacher Hand auf Augenhöhe schräg nach oben riss und mit funkelnden Augen den deutschen Gruß zelebrierte, in heller Vorfreude auf dessen prompte Erwiderung.
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