Ein nagelneues Schild überdeckte die alten Schilder:
Sozialprojekt – Hochherzige Brüder e.V .
„Dort wohnt sie“, sagte er. „Hier entlang!“
Neben dem Tor führte ein Trampelpfad über einen niedergetretenen Maschendraht in die Wildnis. Neben dem Pfad lagen leere Schnapsflaschen, glitzernde Verpackungen von Naschzeug, Fetzen bunter Zeitungen und widerliche Zigarettenschachteln.
Goldmarie sprang in den Brunnen und landete auf einer himmlischen Wiese, Alice fiel in ein Kaninchenloch und schwebte hinab in ein Wunderland, Robinson Crusoe wurde auf eine einsame Insel gespült und blieb dort achtundzwanzig Jahre, ich schritt durch Müll über zerfetzten Maschendraht in einen Dornenwald.
Der Alte, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, mit seinem Brot unterm Arm, führte mich auf einem mit Kraut bewachsenen Weg. Unter der kargen Erdschicht spürte ich das Pflaster einer Straße. Wir kamen zu den Resten eines kleinen Bahnhofs. Das Bahnhäuschen war ein massiver Bau aus geschwärzten Klinkern. Die Schienen waren mit Bauschutt eingeebnet. Vor dem Bahnhaus fiel eine behagliche Bank auf, mit einem reinlichen Platz davor.
„Frauenhaus!“, sagte der Kapuzenmann. „Betreten verboten.“
Am Bahnhäuschen klebte auf vier Stahlsäulen ein Kasten mit Fenstern auf allen vier Seiten.
„Ehemaliges Schaltwerk“, sagte der Alte wie ein Reiseführer.
Die Fensterscheiben des Schaltwerkes waren vom Alter stumpf und milchig und dicht mit Lumpen verhangen.
„Betreten sehr streng verboten.“
Sehr streng also! Ich sah noch einmal hoch und entdeckte ein bläuliches Flackern an den Lappen. Es dämmerte schon. Ich konnte die Anlage neben dem Bahnhof nur undeutlich erkennen. Ich sah einige Mauerreste von Gebäuden, innerhalb dieser Quadrate waren Gärten angelegt.
„Das war mal die Buchhaltung“, erklärte der Alte, „jetzt wächst hier Gemüse. Viel ist noch nicht da, nur Salat, Kresse und Radieschen. Betreten erlaubt.“
Daneben waren die Mauern mit Draht und Brettern erhöht. Es schien ein Tiergehege zu sein.
„Das war mal die Werkskantine, jetzt wohnt hier eine Ziege. Betreten verboten, Lebensgefahr!“
Der Alte führte mich am Bahnhof vorbei, einen sehr schmalen, heftig gewundenen Pfad entlang. Dieser enge Gang mit seinen dichten Seitenwänden aus Dornengestrüpp, Schrott und Steinen erinnerte an ein Labyrinth, aus dem man nicht entweichen konnte. Etwa hundert Schritte vom alten Bahnhof entfernt, öffnete sich die Enge zu einer erfreulichen Lichtung. Dahinter stand, wie ein Waldhaus aus alten Zeiten, eine schiefe Blechhütte.
Auf die Flügeltüren am Giebel war grob „Zum Kopfstand“ gepinselt. Darunter konnte man noch einige Buchstaben aus dem Wort „Bauarbeiterhotel“ entziffern. Es gab keine Fenster. Zur Belüftung waren in die Seitenwände fünf handgroße Löcher ins Blech geschnitten. Aus den Löchern, die an Bullaugen erinnerten, kam warmes Licht. Schilfgras, Wilde Möhre und Rainfarn wuchsen an der Blechwand. In der Abenddämmerung sah die Hütte wie ein Schiff aus, das in grünen Wellen schaukelt. Der rechte Türflügel war in die Erde gesunken, der linke war einen Spalt offen. Das gleiche warme Licht der Bullaugen schimmerte durch den Spalt.
„Tritt ein, du wirst erwartet.“
3.Kapitel
Drei Frauen im „Kopfstand“
Drei Frauen saßen im Laternenlicht feierlich wie ein hohes Gericht im engen Raum. Vor ihnen stand ein leerer Stuhl. Wortlos wurde ich auf diesen Platz gewiesen. Ich setzte mich zögernd und ahmte die Haltung der Frauen nach. Wir saßen so nah beieinander, dass meine Knie fast die Knie der Frauen berührten.
Eine zierliche junge Frau saß mit gesenktem Kopf neben einer würdigen alten Dame, deren schlanke Hände auf dem Griff eines Stockes lagen. Die dritte Frau war stark gerundet und hatte ein fröhliches Mondgesicht. Dann hob die zierliche junge Frau den Kopf und ich erkannte Rosalinde. Und sie war … Wie soll ich’s euch nur beschreiben? Ich sage einfach: Sie war das Gegenteil von verwahrlost.
Die Frauen schwiegen und betrachteten mich aufmerksam. Dann richtete sich die alte Dame in einer Weise auf, wie ich es bisher nur auf Gemälden der alten Meister gesehen hatte.
„Wir wollen hier in den Fabrikruinen ungestört leben“, sagte sie und schwieg wieder. „Die braven Bürger aus der braven Siedlung nebenan kann man sich leicht vom Leibe halten“, fuhr die alte Dame fort. „Ein paar leere Schnapsflaschen im Grase, nächtelang Fernsehgeflimmer an der Gardine, schon die übliche Verwahrlosung schreckt sie ab. Die Kinder aus dieser Siedlung aber sind nun mal keine braven Bürger, sie kommen näher und näher und stören unser stilles Leben.“
Wieder schwieg die Alte und musterte mich eindringlich. „Wir brauchen einen Kinderschreck“, fuhr sie fort. „Wir brauchen ein abscheuliches, unsäglich hässliches Ungeheuer. Du sollst diese Aufgabe übernehmen.“
Sie wartete, bis mein Gesicht ihr sagte, dass ich ungefähr begriffen hatte, was da von mir verlangt wurde.
„Du darfst kostenlos in dieser Hütte hier wohnen“, fuhr die alte Dame fort. „Du bekommst drei Mahlzeiten täglich.“
Die alte Dame lächelte huldvoll. Ich war einfach nur verwirrt und wusste nicht weiter. Ich stammelte einige Zweifel an meiner Eignung für den Beruf eines Kinderschrecks. Ich wies auch auf die Harmlosigkeit meines Äußeren hin. Aber die alte Dame stieß ihren Stock unsanft an meinen Oberarm.
„Und was ist das?“
„Das sind Muskeln.“
„Gut. Schön hässlich. Und das Kraut hier?“
„Ich bin etwas behaart.“
„Gut. Schön hässlich. Auf dem Kopf fehlt es an Kraut. Warum hast du dir lange Haare über die Glatze gelegt und am Hinterkopf zusammengebunden?“
„Ich wollte …“
„Ach, Faxen, Ziererei. Mach das da auf und lass die Haare neben der Glatze herunterbaumeln.“
„Aber … Es wird dann vielleicht etwas unerfreulich aussehen.“
„Höchst erfreulich! Schön hässlich. Gut, das bleibt so. Vielleicht einen Tropfen Öl auf die Glatze. Sie muss weithin glänzen. Nach dieser Platte sollst du heißen, ‚Kahler Barbar‘. Barbar heißt Stammler . Stammler ist gut.“
Die alte Dame sah nach links und rechts zu den jungen Frauen.
„Zu lang“, sagte Rose. „Kahler Baba ist besser.“
„Ja, Kahler Baba passt“, stimmte die alte Dame zu. „Du bist also ab sofort der Kahle Baba .“
Sie stieß ihren Stock auf den Boden. Tok! Tok!
„Aber …“
„Und merke dir, Kahler Baba, schlage ich mit dem Stock zwei Mal auf den Boden, so Tok! Tok!, dann ist mein Wort festgestampft und Gesetz. Und es gibt kein Aber. So.“
Die strenge alte Dame sah mich erwartungsvoll an. Ich wusste nichts zu sagen.
„Ich warte.“
„Worauf?“
„Dass du sagst, ich übernehme diese ehrenvolle Aufgabe.“
„Warum sollte ich? Diese Aufgabe ist höchst seltsam. Warum sollte ich Kinder ängstigen?“
„Weil dich Rose-Rad-ab anlächelt.“
Rose-Rad-ab, früher Rosalinde genannt, hatte bis jetzt vermieden, mir in die Augen zu sehen. Nach dieser Aufforderung hob Rosalinde den Kopf, sah mir in die Augen, und ihre Augen sprühten vor Intelligenz und Übermut. Nein, hier hatte niemand ein Rad ab. Ich sah die stark gerundete junge Frau an. Sie blickte offen entzückt mal zu Rose, mal zu mir. Ich sah in die Augen der alten Dame, warm und klug und etwas besorgt nahm sie meinen Blick an.
Und, das Wichtigste, das noch nie Gefühlte, hier war Vertrauen möglich. Ich stimmte zu.
„Bedingungslos?“
„Bedingungslos.“
„Der Vertrag ist abgeschlossen. Du bist in unseren Verbund als Hilfskraft aufgenommen.“
Tok! Tok! Zweimal stieß der Stock auf den Boden und besiegelte den Vertrag.
„Jetzt zur Kleidung. Dreifingerregel. Daumen hoch: Hemd. Zeigefinger hoch: Hose. Mittelfinger hoch: Sandalen.“
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