Er schlenderte zwischen den Tischen ins Innere der Wirtschaft. „He, Kupferspecht, ich lade dich ein.“
Der Kupferspecht, durch und durch ein Gauner, stand an der Theke. Er nannte sich Buntmetallhändler, schlich nachts herum und klaute Blei- und Kupferrohre, zerschnitt sogar lebendige Kabel. Der Kupferspecht kannte den Eulengrund wie seine Westentasche. Wie ein Schatzgräber durchwühlte er täglich und nächtlich das Gelände der alten Eisenwerke.
„Die drei Frauen leben vorn im alten Betriebsbahnhof“, flüsterte er dem Wirt zu, der zwei Gläser füllte. „Sie kochen und schlafen dort. Dahinter steht auf vier Säulen das Schaltwerk, ein hoher Kasten mit vielen Fenstern. Eine schmale Eisentreppe zwischen den Säulen führt nach oben. Das scheint ihr Wohnzimmer zu sein. Dort verbringen sie die halbe Nacht. Die Fenster sind dicht mit Lappen verhängt. Dort werden sie wohl saufen, naschen und fernsehen. An den Lappen flackert immer Fernsehlicht.“
„Hast du dich mal innen umgesehen?“
„Nein. Man kommt nicht nah heran.“
„Hält das dicke Nilpferd mit ihrem Besen Wache?“
„Nein, Cora X-Bein hält Wache.“
„Cora X-Bein? Ist das die Alte, die mit dem Zauberstock?“
„Nein, die Alte mit dem Knüppel heißt Tok-Tok , sicher weil sie so Tok! Tok! auf die Erde klopft. Nein, nein, Cora X-Bein ist ein Untier, sie ist Das wirklich Böse unter der Sonne . Das ist eine Kampfziege, wachsam und gefährlich wie ein Hofhund. Dieses Ziegenvieh ist schlau, versteckt sich oder stellt sich tot und greift dann tückisch von hinten an. Das X-Bein wohnt in den Mauerresten der zerfallenen Werkskantine und schläft dort im alten Backofen. Da kommt man nicht unbemerkt vorbei. Ja, und diese gehörnte Hexe hätte mich gestern Nacht fast erwischt.“
„Eine Ziege, die in einem Backofen wohnt“, sagte der Gastwirt lachend, „das hat was.“
„Ja, das hat was Teuflisches“, sagte der Kupferspecht.
Dann wurde der Wirt ernst und sagte leise: „Das Lumpengesindel muss verschwinden.“ Er schenkte dem Kupferspecht ein. „Dabei bin ich nicht knausrig.“
2.Kapitel
Ein Bär tappt in die Falle
Man darf zwischen fremden Leuten nicht einfach umfallen, sich auf die Straße legen und heulen. Das macht man nicht. Man macht es schon gar nicht, wenn Kinder dabei sind. Sind Kinder dabei, muss man mit einigem Anstand verzweifeln. Ich hielt mich also aufrecht, als mich der Schlag traf, den man Schicksalsschlag nennt. Ich fiel nicht um und heulte auch nicht. Ich taumelte über die Straße. Ich lehnte mich mit der einen Hand an die Haustür und suchte mit der anderen nach dem Schlüssel. Ich hätte wohl lange so gestanden, wenn nicht ein Nachbar die Tür geöffnet hätte. Ich schleppte mich die Treppen hinauf. In meiner Wohnung warf ich mich auf das Bett und träumte mich zehn Jahre zurück.
Ich träumte von einer Mädchenhorde, und mittendrin in diesem quietschenden und lachenden Knäuel war sie, Rosalinde, Rose genannt, das schönste und klügste Mädchen der Universität. Wenn sie da war, war es etwas heller im Hörsaal. Es leuchteten die Augen der Studenten und Lehrer, vom schüchternen Erstsemester bis hin zum alten Professor. In Rosalindes Nähe reckten sich alle ein wenig in die Höhe und waren stolz, weil sie ja irgendwie zu der gleichen Art Lebewesen gehörten wie diese wunderbare junge Frau.
Eines Tages verschwand Rosalinde aus der Universität, aus der Stadt und, wie es schien, aus der Welt. Studenten und Professoren schrumpften um einige Zentimeter.
„Verlassen, wie der Saufnapf eines gestorbenen Wellensittichs“, murmelte ein Lichtenberg-Kenner. Doch nach und nach trösteten wir uns. Wir waren sicher, dass Rosalinde wieder auftauchen würde, ganz oben, in der höchsten Liga. Sie würde als Sonderbotschafterin der UNO Kriege verhindern, sie würde als Ärztin Seuchen besiegen oder sie würde auf der Liste der Nobelpreisträger erscheinen. Nein, so ein Glücksfall Mensch kann nicht einfach verschwinden. Und nun, etwa zehn Jahre später, traf ich Rosalinde, den Glücksfall Mensch, meine unerreichbare Studentenliebe. Ich traf sie an der Haltestelle vor meiner Wohnung. Sie bemerkte mich nicht, sie war beschäftigt. Sie wühlte in einem Papierkorb.
Sie holte angebissene Brötchen heraus. Sie roch daran und pustete Schmutz und Zigarettenstummel von den Brotresten herunter. Sie stopfte ihre Beute in einen speckigen Rollkoffer, den sie hinter sich her zerrte. Dem Rollkoffer fehlte ein Rad und die Achse kreischte über das Pflaster. Dieses Kreischen schrillte in meinen Ohren, als ich auf dem Bett lag.
„Ich muss sie retten“, murmelte ich endlich nach ein paar Stunden und rappelte mich auf. „Ich muss sie zu mir nehmen, ins Bad führen, die Haare waschen, neu einkleiden, zum Doktor bringen … Vielleicht ist ihr ein Unglück zugestoßen oder eine Suchterkrankung oder eine Liebeskatastrophe. So was kann man reparieren. Ich bin doch kein Schwächling, ich schaffe das.
Zuerst aber muss ich sie finden. Ich werde die Stadt durchstreifen, in die finstersten Winkel kriechen, unter jeder Brücke nachsehen, jede speckige Steppdecke anheben und Rosalinde ohne Ekel auf den Arm nehmen und nach Hause tragen.“
Entschlossen trat ich aus dem Haus. Neben der Haustür lehnte ein alter Mann an der Wand. Die Kapuze einer Sportjacke, wie sie junge Leute tragen, hatte er tief über Stirn und Augen gezogen, und unter dem Arm trug er ein großes, rundes Brot.
„Sie wartet“, murmelte der Alte sanft vorwurfsvoll.
„Wer wartet?“, stotterte ich.
„Rosalinde, die du suchst, sie heißt jetzt Rose-Rad-ab “, antwortete ruhig der Alte. „Ich führe dich zu ihr.“ Dann schwieg der Alte und lief vor mir her zur Haltestelle.
„Du hast leere Hände“, sagte der Alte leise. „Das ist nicht gut. Ich habe niemals leere Hände, ich trage immer ein Brot bei mir, wenn ich zu Bedürftigen gehe.“
Die Straßenbahn kam. Wir stiegen ein. Wir fuhren lange. Wir fuhren aus der Stadt heraus. Wir fuhren bis zur Endstelle. Der Alte, immer noch schweigend, führte mich an einem Gasthof vorbei auf ein mächtiges Eisentor zu. Es war ein Fabriktor aus dem vorigen Jahrhundert, vom Alter verbogen und mit rostigen Ketten verschlossen. „Eisenwerke Pross und Co“, stand oben, in gut erhaltenen Buchstaben, handgeschmiedet.
Der Alte blieb stehen.
„Stillgelegt! Was für ein gutes, genaues Wort. Stillgelegt!“
Er schwieg, stand da und lauschte.
„Es ist sehr, sehr still. Eine stille Fabrik.“
„Ja“, sagte ich etwas verlegen.
„Hier war mal viel Krach“, sagte der Alte.
„Ja, das haben Eisenwerke so an sich“, sagte ich, schon etwas ungeduldig.
„Jetzt ist es still“, sagte der Alte und bewegte sich immer noch nicht. „Die Fabrik produziert in aller Stille weiter.“
„Aha!“
„Wird wohl Eulen produzieren, denn Eulengrund nennen die Leute nun die stille Fabrik.“
„Und Rosalinde?“, versuchte ich, den Alten weiter zu drängen.
„Ja, ja, der alte Eisenkönig, dieser Pross, der war etwas wunderlich. Er trug einen öligen Zahnkranz als Krone.“
Der Alte sah unter seinem Kapuzenrand spöttisch hervor. „Jeder hat sein Zeichen. Pross hatte seinen Zahnkranz, ich habe mein Brot und du, Poet, lässt ein Buch aus deiner Jackentasche ragen.“
Der Alte kannte also meinen Beruf. Und mit dem Berufszeichen hatte er recht, ich trug stets ein dickes Notizbuch bei mir.
„Und Rosalinde?“, drängte ich wieder.
„Rosalinde? Ja, Rosalinde hat ein Rad ab. Darum heißt sie Rose-Rad-ab .“
Der Alte mit der Mönchskapuze zeigte auf die rostigen Gitterstäbe des Tores. Darauf waren Reste verblichener Warnschilder.
Verboten, Einsturzgefahr, Privatgelände …
Читать дальше