Ich will wissen, was mit diesem Toten ist. Von hinten in den Kopf geschossen. Der Mann war allein, wie die Spurenaufnahme ergeben hat. Ich habe mich erkundigt. Also nichts mit cherchez la femme. Und auch sonst nichts Begehrenswertes in der Nähe. Keine Bank, keine Post, kein vergrabener Schatz. Und unbewaffnet war er. Nur ein gutes Fernglas hatte er. Das war ihm aus der Hand gefallen, als die Kugel ihn traf. Ein Spaziergänger im Wald. Aber ein Fremder. An einem wunderschönen Spätsommertag. Gleich neben der Straße Nr. 33 zum Big White Mount hinauf. Beliebtestes Ausflugsgebiet also. Ausspannen, luftschnappen. Wieso ist so was tödlich? Es hat kein Kampf stattgefunden. Die Geldbörse mit Inhalt noch in der Gesäßtasche. Aber keine Brieftasche in der Jacke, keine Papiere, keine Schlüssel. Irgendwie komisch. Gleich morgen werde ich mit Pineladder sprechen und ihn bitten, mir den Auftrag für eine größere Recherche und einen Hintergrundbericht zu geben.
Das Gespräch mit Pineladder fand statt. Und wir waren uns einig: Da steckt was drin. Es ist einfach zuwenig, nur zu sagen, von dem Täter oder den Tätern fehlt jegliche Spur. Ich darf nebenher an diesem Fall weiterarbeiten, stehe ihm aber für die täglichen Einsätze voll zur Verfügung. Damit kann ich leben. Aber dann nach zwei Tagen ein Ukas von ganz oben: Die Eigentümer des Senders Kewlona TV möchten nicht, daß in der Sache Unbekannter Toter neben der Straße Nr. 33 irgendwelche weiteren Nachforschungen unternommen werden! Mit Ausrufungszeichen. Aber keinerlei Begründung dabei. Ist das nicht schon Grund genug, sich weiter um den Fall zu kümmern? Ich bin ein Terrier. Wenn ich eine frische Fährte in der Nase habe, bin ich nicht mehr zu halten. Da werde ich unausstehlich. Ich zerre an der Leine wie verrückt und reiße jeden um, der mich halten will.
„Lassen Sie die Finger davon“, sagt Pineladder. „Die Herren werden einen Grund dafür haben, nicht weiterrecherchieren zu lassen.“
„Und welchen Grund, bitte?“
„Den müssen sie Ihnen nicht auf die Nase binden. Nicht einmal mir oder dem Programmdirektor.“
„Dann kann ich so einen Grund nicht akzeptieren.“
„Das sollten Sie aber, Mister Harrison. Sonst sind Sie so schnell wieder draußen, wie Sie hereingekommen sind in diese Redaktion. Es wäre schade um Sie. Also lassen Sie sich raten: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“
Genausowenig Trost ist im Schneideraum bei Maggy Fry zu finden.
„Es gibt doch auch so genug zu tun“, meint sie.
„Ich will aber diesen Fall weiterverfolgen.“
„Sagen Sie mal, William, welches Sternzeichen sind Sie eigentlich?“
„Wieso?“
„Na, weil Sie so hartnäckig sind. - Also welches? Wassermann ganz sicher nicht.“
„Ich bin Terrier.“
„Quatsch. Terrier gibt es nicht.“
„Bin ich aber. Werdet Ihr schon sehen.“
Der Mann kann ja nicht vom Mond gefallen sein. Und einer aus dem Okanagantal war er nicht, das hatten die von der Presse schon eruiert. Alle Hotels und Pensionen hatten sie abgefragt. Da wurde kein Gast vermißt. Also bleibt die Frage: Wie kommt einer anders hierher als mit dem Wagen?
Im Büro von Mark Evans, dem Starreporter der Regionalzeitung Kelowna Morning, fühle ich mich beinahe wie zuhause. Zumindest rede ich mir das ein. Um nicht allzu unsicher zu sein. Wer bin ich denn? Ich bin einer von ihnen. Ein Reporter wie dieser Mark Evans, nur noch nicht ganz so lange in den schnellen Stiefeln. Gerade erst ein paar Monate. Aber dafür habe ich mehr jugendlichen Elan als Evans, der offensichtlich nicht mehr der jüngste ist. Dagegen ich mit meinen dreißig Jahren. Und mit meinem Aussehen. Alle Frauen fliegen auf mich. Na, sagen wir, fast alle. Ich bin einfach der Typ der Zeit, groß dunkelhaarig und mit wachen Augen. Okay, die etwas zu sehr abstehenden Ohren. Dafür bin ich früher viel ausgelacht worden. Aber das war früher. Dazu sagt kein Mensch mehr was. Kann auch keiner was sagen. Ich bin ein Reporter. Der Typ der Zeit, der die Zeit selbst im Griff hat. Ja, bei uns in den Redaktionszimmern, da sieht es nicht viel anders aus als hier. In der Hochburg der Ereignisse. Nein, der Berichterstattung. Könnte man das so nennen? Dieses aufregende Durcheinander von Papieren und Schreibmaschinen, von Telefonen und Kameras, Blitzlichtgeräten, Tonbändern, Diktiergeräten, auf dem Boden gestapelten Büchern, durchgesessenen Sesseln, vollen Aschenbechern. Und dazwischen der zappelige Mann, schon leicht ergraut, mit den Augen, die einen ansehen, als versuchten sie, mit einem Blick den ganzen persönlichen Hintergrund aufzuhellen.
Daß ich das sehr zu schätzen wüßte, daß er Zeit hat für mich, den Anfänger, sage ich ihm. „Zur Sache, Mann“, ist seine Antwort. Berufsmäßige Schnoddrigkeit. Das kann mich nicht irritieren.
„Sie wissen, es geht um den unbekannten Toten neben der Straße Nr. 33. Wie kommt einer anders her, Mister Evans, um sich hier erschießen zu lassen, als mit dem Wagen? Hat dann aber weder einen Wagen noch Papiere noch einen Wagenschlüssel bei sich.“
„Um sich hier erschießen zu lassen, ist gut gesagt.“
„Na, ich meine nur so.“
„Vielleicht meinen Sie gerade das Richtige. - Könnte doch sein, daß der Mann damit gerechnet hat, hier erschossen zu werden.“ Dabei kramt Evans in den Zeitungsstößen auf dem Boden neben seinem Schreibtisch und zieht die Meldungen von damals heraus. Ich wage nicht, etwas zu sagen. Sein Gesicht ist so spitz geworden wie ein Hundegesicht, das einen bekannten Geruch entdeckt hat.
„Vielleicht wußte der Mann von seiner Gefährdung und war deshalb nicht allein. Habe ich ja auch so geschrieben. Hier ist es. Es wartete vermutlich noch jemand im Wagen in seiner Nähe.“
„Und der fährt dann seelenruhig ab, mit der Brieftasche des Toten, und läßt den Mann einfach im Wald liegen? Spricht ja nicht für eine allzu herzliche Verbindung.“
„Gratuliere, Mister Harrison, Sie sind auf der richtigen Spur.“
„Sie meinen, es kann sich nicht um ein Familienmitglied gehandelt haben, nicht einmal um einen Freund.“
„Genau.“
„Vielleicht um einen Geschäftspartner?“
„Vielleicht.“
„Der seinen Sozius mit einem Schuß erledigt und sich schnell heim begibt, weil das Geschäft ruft? - Wäre schon möglich. Aber es sind ja keinerlei Spuren gefunden worden. Der Tote war allein.“
„Als Toter ja. Aber vorher nicht unbedingt. Der Mann ist nicht aus der Nähe, nicht mit einer Pistole, sondern mit einem Gewehr erschossen worden. Mit einer speziellen Scharfschützenmunition. Der Schütze kann also über hundert Meter weit weg gewesen sein. Da sind die Spurensucher der Polizei überfordert.“
„Das haben Sie schon rausgekriegt?“ Ehrliche Bewunderung zeigen. Mal sehen, ob ein Mann wie Mark Evans sich hinreißen läßt, mehr zu verraten als er eigentlich verraten möchte.
„Nicht nur das. Opfer und Begleiter waren weder Verwandte noch Geschäftspartner. Sie gehörten bloß ein und derselben Organisation an.“
„Das haben Sie in Ihrem Artikel aber nicht gebracht.“
„Stimmt.“
„Und - darf man wissen, warum nicht?“
„Sie dürfen, junger Freund. Obwohl - eigentlich sind Sie zu jung, um Kopf und Kragen zu riskieren. Ich kann Sie nur warnen.“
„Ein kurzes, aber erfolgreiches Leben ist doppelt soviel wert wie ein langes Leben voller Langeweile. - Also bitte! Warum hat ein bekannter Mann wie Mark Evans, dem alle Türen offenstehen und der immer für eine Sensation gut ist, den Schwanz eingezogen?“
Er zuckt kaum merklich zusammen, bleibt aber ganz der überlegene Star. „Wenn Sie es so sehen wollen, nun gut. Mein Verleger hat mich ultimativ aufgefordert, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Keine weiteren Recherchen oder aber Rauswurf!“
„Genau das ist mir gesagt worden.“
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