Die Arme werden dafür gebraucht. Nicht um zärtlich den Rücken einer Frau zu halten, nicht um den Körper eines anderen Menschen eng an sich zu drücken. Das ist zu anspruchsvoll, eine Beziehung setzt voraus, dass man bereit ist, von seinem Leben zu erzählen, die wichtigsten Dinge bloßzulegen, jedenfalls in den einleitenden Phasen. Erzähl von deinem Leben, sagten die Frauen, auf die er sich ausnahmslos eingelassen hatte und er war nicht bereit. Ist es nie gewesen. Vielleicht wird es jetzt anders, das weiß er nicht.
Er hat zwei Urlaubswochen übrig und hier wird ihn niemand vermissen. Am Hauptbahnhof kauft er eine Fahrkarte für den Nachtzug, eine Einzelfahrkarte, denn wenn er es dort nicht aushalten kann, muss er nicht für einen Liegewagen bezahlen, den er nicht braucht. Vielleicht dreht er um, bevor er die Grenze erreicht, lange bevor er einen Fuß auf den Bahnsteig setzen kann, aber heute Abend wird er sich im Zug schlafen legen, so viel ist klar. Wenn er morgen wach wird, wird er im besten Fall dort unten auf den Bahnsteig treten und vielleicht ist es derselbe Bahnsteig wie der, von dem er vor all den Jahren aufgebrochen ist. In der Einzelfahrkarte liegt nichts Symbolisches, es ist ja nicht so, dass er sich überlegt hat, dort zu bleiben. Sein Leben ist hier, er lebt sicher, materiell gesehen ist er gut versorgt, kann das beste Fahrrad kaufen, ordentliches Essen essen und guten Wein und anständigen Kaffee trinken, ins Restaurant gehen, wenn er Lust dazu hat.
Er steht mit der Fahrkarte in der Hand auf den dunkelroten Fliesen des Bahnhofs, inmitten des Stroms von Urlaubsreisenden mit schreienden Babys und übervollen Koffern und irgendwo hinter den dunklen Fenstern versteckt sich die Polizeistation. Man behält die Dealer und Taschendiebe im Auge, normale Menschen haben nichts zu befürchten, wenn man mit „normale“ Menschen Dänen oder diejenigen meint, die ihnen ähneln. Die Leute schubsen und drängeln, ein Zug ist eingefahren und jetzt haben sie es eilig in die Stadt zu kommen, sich in einem der Missionshotels in seiner Straße einzuquartieren und dann raus zu den Vergnügungen, zum künstlichen Lächeln des Tivoli und dessen unverschämten Preisen, all das, wie er gelernt hat, das man lieben muss, wenn man dänisch sein will oder zumindest so tun will als ob.
Dann ist plötzlich eine Frau vor ihm stehengeblieben. Zuerst hört er nicht, was sie sagt, dann wird ihm klar, dass sie Deutsch gesprochen hat und dass sie nach dem Weg fragt. Ihre Erleichterung, als er auf ihrer Sprache antwortet, ist mit Händen greifbar, sie streift eine nervöse Hand durch blondes Haar, lächelt mit einem Mund, der in derselben dunkelrosa Farbe geschminkt ist, die ihr Kleid hat und bedankt sich überschwänglich, bevor sie mit ihrem kleinen Koffer zur Treppe am hintersten Ausgang davonrollt. Ihr Po wiegt leicht. Er ist rund, vielleicht etwas zu rund für seinen Geschmack, aber ihre Beine sehen kräftig aus und da ist etwas an ihrer ganzen Erscheinung, etwas Offenes und Schutzloses, das ihn dazu bringt, ihr zu folgen. An der Treppe holt er sie ein.
– Soll ich den Koffer nehmen?
Die blauen Augen erledigen ihre Arbeit. Sie entscheidet, dass er nicht gefährlich ist und überlässt ihm den Griff. Unterhalb der Treppe sagt er, dass sie denselben Weg haben und sie folgt ihm, geht rechts neben ihm und ihre Schritte passen zusammen, weder zu schnell noch zu langsam. Sie passieren Pornoläden mit ihren Dildos und Handschellen und er sieht sie dorthin schielen, aber zu seiner Erleichterung kommentiert sie das nicht. Ihr Hotel liegt einige Straßen entfernt und er geht an seiner eigenen Ecke vorbei und bringt sie bis zur Tür.
Sabine heißt sie. Geschichtslehrerin aus Berlin, Die Freie Universität. Die Reise nach Kopenhagen war eine Eingebung mitten in den langen Sommerferien. Viel zu lang, sagt der Unterton und es scheint, als wolle sie noch mehr sagen, hält aber inne.
Pläne, ja schon, sie ist vorher noch nie in der Stadt gewesen, also wird sie wohl das tun, was Touristen tun. Tivoli. Meerjungfrau. Was macht man noch?
In seinem Kopf sagt eine Stimme, sonst geht man noch mit mir ins Bett und sie klingt wie eine, die er nicht überhören sollte. Die Fahrkarte in seiner Hemdtasche hat seinen Blutkreislauf angeregt, der Tag ist bereits warm und es wird noch wärmer werden. Der Körper kribbelt von einer Energie, die mehr als eine Fahrradtour verlangt.
– Sabine, sagt er. – Ich zeige dir die Stadt.
Das hier kann er, konnte er schon immer, selbst in seinen naivsten Jugendtagen. Eine schnelle Entscheidung treffen und handeln, natürlich ohne dass ein möglicher Widerstand in die Überlegungen mit eingeht. Er wartet an der Rezeption, während sie den Aufzug nach oben nimmt und den Koffer wegbringt und er kommt nicht dazu, es zu bereuen, bis sie wieder unten ist. Im selben Kleid, aber in anderen Schuhen. Flachen, mit denen man gut auf Platten laufen kann.
Als sie durch die Drehtür rausgehen, weiß er, welche Geschichte er erzählen wird, wenn sie fragt, denn natürlich wird sie fragen. Die DDR ist nicht nur ein Strich auf der Landkarte, in seinem Leben hat die DDR nie existiert. In der Botschaft in Wien hat man ihn für einen Österreicher gehalten, in diese Rolle kann man leicht schlüpfen, er muss sich nur an eine Adresse erinnern und an ein paar Details aus dem Fernsehen, einen schwachen Dialekt kann er auch aufbringen. Er hofft nur, dass sich nicht herausstellt, dass die blonde Sabine in Wirklichkeit aus Salzburg stammt und einen Onkel in Wien hat.
Es ist das einfachste, ein anderer zu werden. Heute jener, morgen ein ganz anderer, seit 30 Jahren schwebt er unter allen Umständen frei und die Frage ist, ob er irgendwann einen Ort findet, wo er landen kann. Selbst das, was am stabilsten aussieht, ist vorläufig. Alles ist Zwischenstation und ob es überhaupt eine Endstation gibt, ist noch zu früh zu sagen.
Sabine plappert los, das meiste über ihren Job, all das Spannende, das passiert, jetzt, wo die Universität Zugang zu einer ganz neuen Rekrutierungsbasis erhält. Direkt von jungen Leuten, die gezwungen wurden etwas anderes zu studieren, als das, wofür sie sich interessierten, zu hochbegabten Forschern, die Schullehrer in irgendeiner Einöde gewesen sind und jetzt endlich mit dem arbeiten können, was sie sich wünschen. Sabine ist ein Kind der Jugendrevolte, die Universität ist ihr Zuhause gewesen. Mein Zuhause, sagt sie, alle meine Freunde habe ich dort, ich liebe meine Studenten, mein ganzes Leben kreist um diesen Ort. Das klingt wie ein Entschluss, den sie getroffen hat und er weiß, wovon sie redet. Sich entscheiden, dass die Wahl, die man getroffen hat, die richtige ist.
Sabine trabt neben ihm in ihren vernünftigen Schuhen energisch weiter, als habe das Treffen mit ihm einen Überschuss ausgelöst, der sie selber überrumpelt. Was er auch vorschlägt, sie ist einverstanden. Der Tag segelt stetig mit ihm am Ruder voran, er führt sie am Tivoli und der Meerjungfrau vorbei, zu all den Orten, die er selbst mag und sie genießt es wie ein kleines Mädchen. Ein »Stjerneskud« in einem der alten Gasthöfe lässt sie laut lachen, ein so poetischer Name für so viel Mayonnaise. Sie sitzen unter dem Sonnensegel mit ihren großen Fassbieren und einem Stück Apfelkuchen zum Kaffee und trotz ihres Protestes, bezahlt er die Rechnung. Dann ist es spät geworden und er muss noch ein paar Sachen regeln, bevor der Zug abfährt, aber es eilt trotzdem nicht zu sehr, sodass er sie zum Hotel zurückbegleitet. Begleitet sie im Aufzug nach oben, legt seinen Arm um ihren festen Körper und spürt, wie sie nachgibt, in ihn schmilzt und ihre Haut ist unter dem cerisefarbenen Kleid weich und duftet gut, auch wenn sie feucht und heiß wie der Tag draußen ist und sie will und sie will nicht. Der Körper will, das merkt er, aber sie verbirgt etwas. Er hat Frauen wie sie schon früher getroffen. Gebrannte Kinder, die das Feuer scheuen, das er entzünden könnte.
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