Die junge Frau vor ihr nickte und fuhr fort. »Mein Name ist, wie Ihr schon wisst, Tessa. Ich bin eine Nereïde, eine Nymphe des Meeres.« Sie breitete die Arme aus, fasste all die Monster mit ein, die hinter ihrem Rücken im Quecksilberwasser standen. »Diese Wesen riefen mich, weil sie ein Monster fanden. Ich bin die Jägerin und hier, um Euch zu richten, Ceto.«
Wie dumm Ceto gewesen war, Tessa nicht zu erkennen. Oder die Scharade, die sie und ihr Reittier aufgeführt hatten. Sie hätte fühlen müssen, wen und was sie vor sich hatte und woher sie kam. Doch das hatte sie nicht. Cetos Mund fühlte sich trocken an und sie bekam kein Wort heraus.
Tessa neigte den Kopf. »Ihr seid das Monster, Ceto. Nicht Eure Kinder. Ihr tötet sie, weil Ihr ihren Anblick nicht ertragt. Ihr denkt, sie seien böse, und Ihr habt Angst davor, was das für Euch selbst bedeutet. Was es über Euch aussagt.«
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sah Ceto zu den Gesichtern ihrer Kinder auf. Zu den schillernden, aber grausigen Wesen, die sie dem Meer und ihrem Mann, dem Gott Phorkys, geboren hatte. Der Anblick war unerträglich für sie, tat ihr körperlich weh. Aber keines der Geschöpfe vor ihr blickte voller Hass zu ihr zurück. In den Augen lagen Zuneigung, Enttäuschung, Wut und das bittere Verständnis für das eigene Fleisch und Blut.
Tessa machte einen Schritt auf sie zu. »Ihr seid nicht vollkommen verloren, Ceto. In Euch steckt mehr als dieses Monster. Ihr habt mich gerettet und mich geheilt. Es gibt noch Hoffnung. Für Euch und das Dorf, das Ihr mit Euren Lügen verpestet habt. Solange jemand die Dinge hinterfragt und andere Wege sieht, gibt es Hoffnung«, sagte Tessa und Ceto rann eine Träne über die Wange, als sie an das kleine Mädchen dachte.
Sie schüttelte den Kopf. Mit krächzender Stimme gestand sie: »Ich lebe schon viel zu lange so. Ich kann es nicht ändern.«
Die Jägerin ging in die Knie und tauchte beide Hände unter Wasser. Als sie sich aufrichtete, hielt sie in der linken Hand einen Bogen, gefertigt aus einem Walkiefer und dem Haar einer Seehexe, in der rechten einen Pfeil aus einem spitzen Haifischzahn und einer zurechtgeschnitzten Fischrippe.
Das Meer selbst war gekommen, um Ceto zu richten. Diese unzügelbare Schöpfung, über die sie herrschen sollte. Sie hatte es nicht kommen sehen, hatte sie nicht kommen sehen. Und das, obwohl Wasser ihr Blut und das Salz der See ihr Atem war. Sie hatte ihre Verbindung zu diesem Wunder verloren, und wie es schien, auch jene zu sich selbst. Wer war sie, sich einem solchen Urteil zu widersetzen?
Ceto ging in die Knie, während Tessa den Pfeil anlegte. Die Kinder der Göttin schlossen die Augen und sangen ein leises Lied.
»Lebt wohl.« Tessas Finger gaben den Pfeil frei. Er zischte auf Ceto zu, die mit keiner Wimper zuckte. Sie sah ihrem Schicksal hocherhobenen Hauptes und mit offenen Augen entgegen.
Das Geschoss durchbohrte ihr Herz, beides löste sich in Meeresschaum auf. Von innen heraus wurde die Göttin zu dem Element, aus dem sie einst geboren worden war, zu dem sie vergehen und aus dem sie auferstehen würde.
Sie riefen nach ihr, als sie den Weg nach Hause fand.
Der freundliche Nachbar vom See
Anika Beer
Anika Beer
Meine erste Schreibmaschine bekam ich zu meinem achten Geburtstag«, berichtet Anika Beer, Jahrgang 1983, auf ihrer Website. Sie wusste schon immer, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Inzwischen schreibt sie Romane nicht nur unter ihrem echten Namen (beispielsweise Als die Schwarzen Feen kamen ), sondern auch als Franka Rubus und Ana Jeromin.
Nach dem Abitur verschlug es sie zunächst als Kindermädchen nach Spanien; anschließend studierte sie Neurobiologie. Auf beide Erfahrungen konnte sie bereits für ihre Bücher zurückgreifen. So spielt ihr Buch um eine kinderfangende Hexe ( Amaias Lied) in Barcelona und in ihrer Trilogie Die Blutgabe geht sie das Thema Vampirismus wissenschaftlich an.
Im September 2021 erscheint ihr nächster großer Jugendroman Euphoria City – ein Buch über die Manifestation geheimer Wünsche. Da ich das große Glück hatte, es schon lesen zu dürfen, kann ich es euch bereits heute wärmstens empfehlen.
Obwohl Anika in der Bergstadt Oerlinghausen am Teutoburger Wald aufwuchs, bezeichnet sie sich als Wassermensch: »Im Urlaub habe ich so viel Zeit wie möglich im Wasser verbracht – oder noch lieber unter Wasser. Es fasziniert mich, wie sich die Geräusche und die Farben verändern, wie die Sonne Lichter auf den Grund malt und wie die Bewegungen gleichzeitig träge und schwebend sind.«
Genau diese Atmosphäre fängt sie wunderbar in ihrer nachfolgenden Geschichte ein.
www.anikabeer.de
Der freundliche Nachbar vom See
Aoyama-gō, Provinz Iga, Japan im August 1863,
dem 2. Jahr der Bunkyu Ära.
Das Schwert war weg.
Fassungslos starrte Taro auf seine leeren Hände. Unter der zerbrochenen Planke des alten Bootsstegs, die wenige Augenblicke zuvor unter seinem Fuß nachgegeben hatte, zitterte das Wasser noch in konzentrischen Kreisen. Die leere Schwerthülle an seinem Gürtel wog wie ein Stein.
Einfach weg.
Der Abendwind vom See her wisperte leise im hohen Schilfgras, das den Steg umschloss. Die Zikaden hatten ihr Sommerabendlied angestimmt. Doch Taros Herz übertönte sie mit der Wucht eines Schmiedehammers.
Yae würde ihn umbringen.
Seine ältere Schwester hatte das Schwert selbst erst vor wenigen Wochen bei der jährlichen genpuku des Dorfes erhalten, als sie und die anderen Sechzehnjährigen von Aoyama-gō in die Gemeinschaft der Erwachsenen initiiert worden waren. Daher hatte sie sich nur sehr widerwillig überzeugen lassen, es ihm wenigstens ein einziges Mal auszuleihen. Es war umso schwieriger gewesen, da Taro mit seinen dreizehn Jahren bereits nahezu sämtliche kindliche Niedlichkeit verloren hatte, die ihm früher in solchen Fällen zugutegekommen war. Aber Yae liebte ihn dennoch wie keinen anderen, deshalb hatte sie am Ende zugestimmt.
Und jetzt war es weg.
Dabei hatte Taro doch bloß ein einziges Mal ausprobieren wollen, ob er die Techniken, die Mina-sensei ihn und die anderen Ninjutsu-Schüler des Tsukimi’kan Tag für Tag mit ihren Holz- und Bambusschwertern üben ließ, auch mit einer Klinge aus Stahl ausführen konnte.
Die bittere Wahrheit war: Er konnte es nicht. Nicht mit einer deutlich zu langen Waffe, deren Griff zu dick war für seine Hände, und schon gar nicht auf dem morschen, glitschig feuchten Holz des stillgelegten Bootsstegs im Schilf, den er sich als geheimen Übungsplatz ausgesucht hatte. Und so hatte sich das Schwert bei der letzten Drehung selbst aus seinem Griff gehebelt und war mit einem unbeteiligten Platschen einfach versunken. Taro fiel auf die Knie und umklammerte mit beiden Händen die Überreste der morschen Planke, unter der es verschwunden war. Was sollte er nur tun?
Das Wasser zitterte. Kleine Blasen stiegen an die Oberfläche und durchbrachen Taros wackelndes, verschwommenes Spiegelbild, als wolle der See ihn für seine Einfältigkeit auslachen. Als starre sein eigenes, zuvor noch so stolzes Gesicht, von den kleinen Wellen zu einer jämmerlichen Grimasse verzerrt, höhnisch zurück zu ihm herauf.
Doch erst als eine grüne Hand platschend durch die Wasseroberfläche brach und sich dicht neben seiner an das glitschige Holz des Steges klammerte; als ein wuchtiger Kopf mit strähnigem algenbraunem Haar und glotzenden Augen folgte und Taro prustend eine Fontäne schlammigen Wassers entgegensprühte, begriff er, dass es gar nicht sein Gesicht war. Mit einem überraschten Keuchen wich Taro zurück und fiel sehr unelegant auf sein Hinterteil.
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