E.T.A. Hoffmann
Saga
Nachtstücke - 2. Teil Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1817, 2019 E.T.A. Hoffmann und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726372137
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Man war darüber einig, dass die wirklichen Erscheinungen im Leben oft viel wunderbarer sich gestalteten als alles, was die regste Phantasie zu erfinden trachte. „Ich meine,“ sprach Lelio, „dass die Geschichte davon hinlänglichen Beweis gibt und dasseben deshalb die sogenannten historischen Romane, worin der Verfasser in seinem müssigen Gehirn bei ärmlichem Feuer ausgebrütete Rindereien den. Taten der ewigen, im Universum waltenden Macht beizugesellen sich unterfängt, so abgeschmackt und widerlich sind.“ „Es ist“, nahm Franz das Wort, „die tiefe Wahrheit der unerforschlichen Geheimnisse, von denen wir umgeben, welche uns mit einer Gewalt ergreift, an der wir den über uns herrschenden, uns selbst bedingenden Geist erkennen.“ „Ach!“ fuhr Lelio fort, „die Erkenntnis, von der du sprichst! — ach, das ist ja eben die entsetzlichste Folge unserer Entartung nach dem Sündenfall, dass diese Erkenntnis uns fehlt!“ „Viele,“ unterbrach Franz den Freund, „viele sind berufen und wenige auserwählt! Glaubst du denn nicht, dass das Erkennen, das beinahe noch schönere Ahnen der Wunder unseres Lebens manchem verliehen ist wie ein besonderer Sinn? Um nur gleich aus der dunklen Region, in die wir uns verlieren könnten, heraufzuspringen in den heiteren Augenblick, werf’ ich Euch das skurrile Gleichnis hin, dass Menschen, denen die Sehergabe, das Wunderbare zu schauen, mir wohl wie die Fledermäuse bedünken wollen, an denen der gelehrte Anatom Spalanzani einen vortrefflichen sechsten Sinn entdeckte, der als schalkhafter Stellvertreter nicht allein alles, sondern viel mehr ausrichtet als alle übrigen Sinne zusammengenommen.“ „Ho ho,“ rief Franz lächelnd, „so wären denn die Fledermäuse eigentlich recht die geborenen natürlichen Somnambulen! Doch in dem heiteren Augenblick, dessen du gedachtest, will ich Posto fassen und bemerken, dass jener sechste bewunderungswürdige Sinn vermag, an jeder Erscheinung, sei es Person, Tat oder Begebenheit, Sogleich dasjenige Exzentrische zu schauen, zu dem wir in unserem gewöhnlichen Leben keine Gleichung finden und es daher wunderbar nennen. Was ist denn aber gewöhnliches Leben? — Ach, das Drehen in dem engen Kreise, an den unsere Nase überall stösst, und doch will man wohl Rurbetten versuchen im taktmässigen Passgang des Alltagsgeschäfts. Ich kenne jemanden, dem jene Sehergabe, von der wir sprechen, ganz vorzüglich eigen scheint. Daher kommt es, dass er oft unbekannten Menschen, die irgend etwas Verwunderliches in Gang, Kleidung, Ton, Blick haben, tagelang nachläuft, dass er über eine Begebenheit, über eine Tat, leichthin erzählt, keiner Beachtung wert und von niemandem beachtet, tiefsinnig wird, dass er antipodische Dinge zusammenstellt und Beziehungen herausphantasiert, an die niemand denkt.“ Lelio rief laut: „Halt, halt, das ist ja unser Theodor, der ganz was Besonderes im Kopfe zu haben scheint, da er mit solch seltsamen Blicken in das Blaue herausschaut.“ „In der Tat,“ fing Theodor an, der so lange geschwiegen, „in der Tat waren meine Blicke seltsam, solang darin der Reflex des wahrhaft Seltsamen, das ich im Geiste schaute. Die Erinnerung eines unlängst erlebten Abenteuers“ — „O erzähle, erzähle,“ unterbrachen ihn die Freunde. „Erzählen“, fuhr Theodor fort, ,,möcht’ ich wohl doch muss ich zuvörderst dir, lieber Lelio, sagen, dass du die Beispiele, die meine Sehergabe dartun sollten, ziemlich schlecht wähltest. Aus Eberhards Synonymit musst du wissen, dass wunderlich alle Äusserungen der Erkenntnis und des Begehrens genannt werden, die sich durch keinen vernünftigen Grund rechtfertigen lassen, wunderbar aber dasjenige heisst, was man für unmöglich, für unbegreiflich hält, was die bekannten Kräfte der Natur zu übersteigen oder, wie ich hinzufüge, ihrem gewöhnlichen Gange entgegent zu sein scheint. Daraus wirst du entnehmen, dass du vorhin rücksichts meiner angeblichen Sehergabe das Wunderliche mit dem Wunderbaren verwechseltest. Aber gewiss ist es, dass das anscheinend Wunderliche aus dem Wunderbaren sprosst, und dass wir nur oft den wunderbaren Stamm nicht sehen, aus dem die wunderlichen Zweige mit Blättern und Blüten hervorsprossen. In dem Abenteuer, das ich euch mitteilen will, mischt sich beides, das Wunderliche und Wunderbare, auf, wie mich dünkt, recht schauerliche Weise.“ Mit diesen Worten zog Theodor sein Taschenbuch hervor, worin er, wie die Freunde wussten, allerlei Notizen von seiner Reise her eingetragen hatte, und erzählte, dann und wann in dies Buch hineinblickend, folgende Begebenheit, die der weiteren Mitteilung nicht unwert scheint.
„Ihr wist (so fing Theodor an), dass ich den ganzen vorigen Sommer in ***n zubrachte. Die Menge alter Freunde und Bekannten, die ich vorfand, das freie, gemütliche Leben, die mannigfachen Anregungen der Kunst und der Wissenschaft, das alles hielt mich fest. Nie war ich heiterer, und meiner alten Neigung, oft allein durch die Strassen zu wandeln, und mich an jedem ausgehängten Kupferstich, an jedem Anschlagzettel zuergögen, oder die mir begegnenden Gestalten zu betrachten, ja wohl manchem in Gedanken das Horoskop zu stellen, hing ich hier mit Leidenschaft nach, da nicht allein der Reichtum der ausgestellten Werke der Kunst und des Luxus, sondern der Anblick der vielen herrlichen Prachtgebäude unwiderstehlich mich dazu antrieb. Die mit Gebäuden jener Art eingeschlossene Allee, welche nach dem ***ger Tore führt, ist der Sammelplatz des höberen, durch Stand oder Reichtum zum üppigeren Lebensgenuss berechtigten Publikums. In dem Erdgeschoss der hohen breiten Paläste werden meistenteils Waren des Luxus feilgeboten, indes in den oberen Stockwerken Leute der beschriebenen Rlasse hausen. Die vornehmsten Gasthäuser liegen in dieser Strasse, die fremden Gesandten wohnen meistens darin, und so könnt ihr denken, dass hier ein besonderes Leben und Regen, mehr als in irgendeinem anderen Teile der Residenz, stattfinden muss, die sich eben auch hier volkreicher zeigt, als sie es wirklich ist. Das Zudrängen nach diesem Orte macht es, dass mancher sich mit einer kleineren Wohnung, als sein Bedürfnis eigentlich erfordert, begnügt, und so kommt es, dass manches von mehreren Familien bewohnte Haus einem Bienenkorbe gleicht. Schon oft war ich die Allee durchwandelt, als mir eines Tages plätzlich ein Haus ins Auge fiel, das auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach. Denkt euch ein niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes Haus, dessen Stock über dem Erdgeschoss nur wenig über die Fenster im Erdgeschoss des nachbarlichen Hauses hervorragt, dessen schlecht verwahrtes Dach, dessen zum Teil mit Papier verklebte Fenster, dessen farblose Mauern von gänzlicher Verwahrlosung des Eigentümers zeugen. Denkt euch, wie solch ein Haus zwischen mit geschmackvollem Luxus ausstaffierten Prachtgebäuden sich ausnehmen muss. Ich blieb stehen und bemerkte bei näherer Betrachtung, dass alle Fenster dicht verzogen waren, ja dass vor die Fenster des Erdgeschosses eine Mauer aufgeführt schien, dass die gewöhnliche Glocke an dem Torwege, der, an der Seite angebracht, zugleich zur Haustür diente, fehlte, und dass an dem Torwege selbst nirgends ein Schloss, ein Drucker zu entdecken war. Ich wurde überzeugt, dass dieses Haus ganz unbewohnt sein müsse, da ich niemals, niemals, so oft und zu welcher Tageszeit ich auch vorübergehen mochte, auch nur die Spur eines menschlichen Wesens darin wahrnahm.
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