1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 „Wie lange ist er schon tot?“, fragte Mikkel.
„Ich vermute ungefähr vierzehn Tage, aber du weißt, dass ich das nicht genau sagen kann, bevor ich ihn auf dem Tisch hatte“, meinte Natalie.
„So lange! Wieso hat ihn niemand entdeckt?“, sagte Isabella.
„Er hatte keinen Kontakt zu den Nachbarn“, erklärte Anne.
„Woher wissen Sie das?“ Isabella schaute sie misstrauisch an.
„Wir müssen ihn wegschaffen“, unterbrach Natalie und stand auf. „Wir können nicht gleichzeitig diese Tiere weghalten und arbeiten.“
„Was machen wir anschließend damit? Das Ganze vergasen?“
„Nein!“ rief Freddy aufgebracht. „Wir nehmen das meiste mit.“
„All das da draußen lassen wir töten“, sagte Mikkel bestimmt und machte eine ausladende Geste über das Gebiet hinter dem Haus in Richtung Wald beim Sägewerk. „Die könnt ihr ja unmöglich alle einsammeln und wir können nicht zulassen, dass sich hier Giftspinnen vermehren.“
„In unserem Klima überleben sie draußen nicht besonders lange, und …“ Freddy ergab sich, als ob er der Wirklichkeit ins Auge sähe. „Wenn wir fertig sind, können Sie mit dem Rest machen, was Sie wollen. Aber nicht vorher!“, insistierte er.
„Okay, okay!“ Mit einem kleinen Lächeln und einem leichten Kopfschütteln folgte Mikkel Isabella nach draußen. Er hatte seine Hand beschützend auf ihren Rücken gelegt. Sie waren ja auch ein Paar.
Der Himmel hatte sich zugezogen und Wind war aufgekommen. Das fühlte sich sehr befreiend an. Anne stand direkt hinter den Beamten und konnte problemlos ihr Gespräch mit der Rechtsmedizinerin mithören; es war, als hätten sie völlig vergessen, wer sie war.
„Untersuchst du ihn näher oder steht die Todesursache fest?“, wollte Mikkel wissen.
„Nichts steht fest“, antwortete Natalie und zog die Handschuhe aus. „Ich muss herausfinden, was die genaue Todesursache ist. Wir wissen ja nicht, ob er bereits tot war, als seine Untermieter angefangen haben, ihn einzuspinnen. Ein Verbrechen kann nicht einfach ausgeschlossen werden.“
„Okay. Hast du einen Leichenwagen gerufen?“
Natalie bestätigte mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln. Mikkel sprach auch mit ihr, als ob sie selbst nichts auf die Reihe kriegen würde. Anne fragte sich, ob er schon für Benito übernommen hatte, so, wie er sich aufführte.
Sie warteten in der Sonne auf dem Hof, von dem der tote Dachs entfernt worden war, aber der Geruch hing noch in der Luft. Freddy meinte, er sei an dem tödlichen Biss von einer der Schwarzen Witwen gestorben.
Kurz darauf bog der Krankenwagen vor dem Haus ein. Anne konnte wieder Fotos machen, als sie den Toten in einem Leichensack hinaustrugen.
„Du kontaktierst mich, sobald du etwas weißt, ja?“, bat Mikkel Jensen, als der Krankenwagen gefahren war.
Natalie nickte und stieg in ihr Auto. Sie fuhr als Erste, kurz darauf parkten Mikkel und Isabella rückwärts aus auf den Feldweg. Das Auto verschwand den Viborgweg hinunter. Die Techniker arbeiteten weiter, während die Biologen ungeduldig warteten.
„Da kannst du’s sehen“, sagte Freddy.
„Was?“
„Dass es zu einem Mord gekommen ist.“
„Ja, und sogar eher, als wir damit gerechnet haben.“
Endlich gaben die Techniker den Biologen die Erlaubnis anzufangen und fuhren mit ihrem eingesammelten Material zurück.
Anne hatte das Gefühl im Weg zu stehen, aber es war schwer, sich loszureißen und zurück in eine leere Redaktion zu fahren. Freddy war dabei, kleine Behälter mit Eiern und Ungeziefer in Kisten in seinem Auto zu arrangieren.
„Wer kann ihn mit all diesen Tieren versorgt haben? Die kann man doch wohl nicht in einer normalen Zoohandlung kaufen?“, fragte sie.
„Einige davon schon. Die ungiftigen. Zum Beispiel die kleinen Echsen, wie diesen Eublepharis macularius hier – ein Leopardgecko.” Er deutete auf eine durchsichtige Plastikkiste, in der eine kleine, ungefähr 15 Zentimeter große Echse mit gelben Flecken saß.
„Sieht aus, als ob die Schlangen einige der anderen Tiere gefressen haben. Da drinnen muss die reinste Anarchie geherrscht haben …“
„Er kann sie doch auch privat gekauft haben. Vielleicht im Internet?“
„Problemlos. Der Schmuggel von giftigen, seltenen oder bedrohten Tierarten ist zu einer großen Industrie geworden. Die Schmuggler können damit Milliarden verdienen und es gibt keine Grenzen für ihren Einfallsreichtum, wenn sie durch den Zoll müssen. Ein Scanner an einem Flughafen in Argentinien hat zum Beispiel einen Koffer mit ungefähr 250 Schlangen und Spinnen gefunden. Sie waren in zusammengerollten Socken versteckt. Klar, dass die Tiere unter einem solchen Transport leiden. Einige der Schlangen waren giftig. Sie hätten nach Spanien geschmuggelt werden sollen. Er hatte einfach das Pech, gestoppt zu werden.“
„Was macht ihr denn jetzt mit denen?“, wollte sie wissen und wich vor einem Karton mit Schlangen zurück, den ein Biologe im Arm hielt und mit einem siegessicheren Lächeln zum Auto trug.
„Wir versuchen jemanden zu finden, der sich um sie kümmert. Zoos wie der Randers Regnskov beispielsweise. Ansonsten müssen wir sie töten, damit ist ihnen am besten gedient.“
Italien, Neapel
Als Roland zurückkam, saßen sie in Tante Giovannas Küche mit dem großen, breiten Gasherd und einem antiken Kronleuchter über dem reich gedeckten Tisch. Seine Tante stand sofort auf und stellte einen weiteren Teller auf den Tisch.
„ Scusi , Rolando. Ich dachte, du kommst nicht zum Mittagessen. Es ist ja schon …“ Sie reichte ihm die Schüssel mit selbst gemachten Ravioli und einer Pastasoße, die himmlisch duftete. Zia Giovanna war eine hervorragende Köchin nach der alten, italienischen Kochschule. Sie pflegte eine Kochkunst, für die heutzutage sonst keiner Zeit hatte.
Nur Nonno Pippino schaute nicht auf. Er war mit Essen beschäftigt. Die weißen Haare, normalerweise über die eine Seite gekämmt, um einen markanten Haarausfall zu kaschieren, waren nach vorne gefallen und hingen ihm wie Schweinsborsten in die Stirn. Seine Haut war fahl mit dunklen Leberflecken, die zusammengewachsenen Augenbrauen waren weiß und lang und hingen über die Augen, sodass man sie nicht sehen konnte, wenn er nach unten auf den Teller schaute. Die Brille baumelte an einer Schnur um seinen Hals, wie die Fausthandschuhe von Kindern, damit er sie nicht verlor, aber er benutzte sie selten, nur, wenn er etwas mit kleinen Buchstaben lesen oder Kreuzworträtsel lösen wollte. Auf der grauen Strickweste, die er über einem kurzärmligen hellblau und weiß gestreiften Hemd trug, war ein dunkler Fleck. Sah nach Kaffee aus.
„Ich habe mich verspätet. Ich bin derjenige, der sich entschuldigt. Ich hätte anrufen sollen.“
Jetzt sah Pippino erschrocken auf, als ob ihn jemand geweckt hätte. An seinem Kinn klebte Tomatensoße zwischen kleinen, weißen Bartstoppeln.
Irene lächelte Roland zu, aber hinter diesem Lächeln steckte etwas anderes; sie amüsierte sich über seine Untertänigkeit der Tante gegenüber. Zu Hause entschuldigte er sich auch nicht jedes Mal, wenn er zu etwas zu spät kam und schon gar nicht so demütig.
Er hatte Respekt vor seiner Tante, wie er ihn auch vor seinem Vater gehabt hatte. Ja, auch daran erinnerte er sich, auch wenn er erst vier Jahre alt gewesen war. Davon war er überzeugt. Selbstverständlich hatte er Adriano Benito respektiert. Ihn vielleicht auch gefürchtet. Wie er nun Giovannas eindringlichen Blick und die dunklen Augen fürchtete. Sie hatte ein hartes Leben gehabt. Eigentlich war sie nicht so viel älter als Roland; knapp sieben Jahre. Sie war elf, als ihr Bruder ermordet wurde. Den Tod kannte sie allzu gut. Die Camorra war immer ein drohender Bestandteil ihres Lebens gewesen, teils, weil ihr Bruder Carabiniere war, teils, weil sie sich weigerte, Schutzgeld für ihren Antiquitätenladen in der Via Chiaia zu zahlen, und einen eigenen Verein gegen die Erpressungen der Mafia gegründet hatte. Er wusste nicht, wie viele Unterschriften sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte und wozu es eigentlich geführt hatte, aber es waren viele Tausend. In diesem Sinne war sie für die Camorra keine direkte Bedrohung. Die Banden wussten genau, was der Großteil der Bevölkerung von ihnen hielt, und besonders heutzutage, wo die Mafia eine verborgene Kraft war, die sich feige unter Politikern und Berufstätigen versteckte, hielten sie sich einigermaßen zurück. Aber sie hatten im Laufe der Jahre vielen von Benitos Familienmitgliedern ein Ende bereitet, zuletzt Salvatore. Ihrem Sohn. Erst fünfzehn Jahre alt. Er war der Jüngste einer großen Kinderschar gewesen. Ihr Mann war bis zu seinem Tod ein geiler Bock, wie er selbst es gern mit Stolz ausdrückte, gleichzeitig ein strenggläubiger Katholik und hatte sich geweigert, Verhütung zu benutzen, gegen die auch der Papst war. Giovanna war schon gesetzteren Alters, als sie Salvatore bekam, und wäre bei seiner Geburt beinahe gestorben. Einige Jahre später starb ihr Mann und es gab keine weiteren Kinder. Sie waren alle auf einem vergilbten Foto im Rahmen auf dem Schrank mit Tischdecken und Geschirrtüchern versammelt, sodass er es direkt hinter Nonnos Scheitel hier von seinem festen Platz am Tisch aus anschauen konnte. Wie er auch in der Küche seiner Mutter gesessen und das Bild seines Vaters in der Carabinieri-Uniform angesehen und darüber nachgedacht hatte, wie gesegnet er war, dort sitzen und essen zu dürfen; das konnten nicht mehr alle. Vier auf diesem Foto waren tot. Pippino war auch darauf, in einer etwas jüngeren Ausgabe. Er stand hinter zwei der Jungs, jeweils eine Hand auf ihren Schultern, auch damals mager und ein wenig in sich zusammengesunken. Ein wehmütiger Seufzer entstand in Rolands Brustkorb darüber, nicht mit auf dem Foto zu sein. Es war, als gehörte er nicht zur Familie. Aber er wohnte ja in Dänemark. Er versteckte sich dort. Er wusste, dass die anderen das so sahen. Auch Tante Giovanna. Besonders sie. Zwei ihrer Söhne saßen hier am Tisch zusammen mit ihren Ehefrauen und Kindern, aber sie waren Fremde für Roland, obwohl sie Familie waren. Es war selten, dass sie an Familientreffen teilnahmen, und er hatte sie seit Salvatores Beerdigung nicht gesehen. Aber sie hatten jetzt auch Urlaub und waren aus Pisa in Norditalien gekommen. Der eine der Söhne wollte mit seiner Familie weiter nach Sizilien, deswegen war der Bruder mit seiner Familie hier bei der Mutter aufgekreuzt, um sie zu treffen, jetzt, wo sie im Süden waren.
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