„Sie können sich denken, Herr Holmes, dass ich keine Lust hatte, ihm seine Bitten abzuschlagen. Er wollte mir wohl, und ich hatte daher nur das Bestreben, seinen Wünschen bis ins kleinste zu entsprechen. Ich telegraphierte nach Hause, dass ich am Abend ein wichtiges Geschäft vorhabe und nicht wüsste, ob ich kommen könnte. Herr Oldacre hatte mich für neun Uhr zum Essen eingeladen, weil er kaum vor dieser Stunde zu Haus sein würde. Es war nicht ganz leicht, seine Wohnung zu finden, sodass es gegen halb zehn wurde, ehe ich sie erreichte. Ich traf —“
„Einen Augenblick!“ unterbrach ihn Holmes. „Wer öffnete Ihnen die Tür?“
,,Eine Frau in mittleren Jahren, vermutlich seine Haushälterin.“
„Dieselbe hat wahrscheinlich der Polizei auch Ihren Namen angegeben?“
„Doch wohl,“ antwortete Farlane.
„Bitte, weiter.“
Unser Klient wischte sich den Schweiss von der Stirne und fuhr dann fort: —
„Diese Frauensperson führte mich in ein Empfangszimmer, wo ein frugales Abendbrot aufgetragen war. Nach dem Essen nahm mich Herr Oldacre mit in sein Schlafzimmer, wo ein schwerer Geldschrank stand. Er schloss auf und nahm eine Menge Papiere heraus, die wir zusammen durchgingen. Es dauerte bis zwischen elf und zwölf Uhr, ehe wir fertig wurden. Er sagte dann zu mir, wir dürften die Wirtschafterin nicht stören, und geleitete mich an das Balkonfenster, das während der ganzen Zeit offen, gestanden hatte.“
„War die Jalousie heruntergelassen?“ fragte Holmes.
„Ich bin nicht ganz sicher, glaube aber, dass sie nur halb unten war. Jawohl, ich entsinne mich, wie er sie aufzog, um das Fenster aufmachen zu können. Ich hatte meinen Stock noch nicht. Er sagte jedoch: ,Schadet nichts, mein Lieber; ich werde Sie hoffentlich in der nächsten Zeit häufiger bei mir sehen, ich heb’ ihn auf, bis Sie wiederkommen‘. Ich liess ihn also zurück. Der Schrank stand noch offen und die Papiere lagen, in Bündel zusammengeschnürt, auf dem Tische, als ich das Zimmer verliess. Es war so spät, dass ich nicht mehr nach Blackheath zurück konnte. Ich blieb daher die Nacht in einem nahen Hotel und ahnte nichts Böses, bis ich heute früh die schreckliche Geschichte in der Zeitung las.“
„Wollen Sie noch einige Fragen stellen, Herr Holmes?“ sagte Lestrade, der während der merkwürdigen Erzählung ein paarmal den Kopf geschüttelt hatte.
„Eher nicht, bis ich in Blackheath gewesen bin.“
„Sie meinen in Norwood,“ verbesserte Lestrade.
„Jawohl; das meinte ich,“ erwiderte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade hatte schon häufiger erfahren müssen, als ihm lieb sein mochte, dass dieser scharfe Verstand noch vieles zu durchschauen vermochte, was ihm undurchdringlich erschienen war. Er sah meinen Gefährten neugierig an.
„Ich möchte gleich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Herr Holmes,“ sagte er. „Nun, Herr Farlane, vor der Tür stehen zwei von meinen Leuten und warten auf Sie, der Wagen ist draussen vor dem Haus.“ Der unglückliche junge Mensch erhob sich und ging mit einem letzten flehentlichen Blick zur Türe hinaus. Die Schutzleute stiegen mit ihm in die Droschke, während der Inspektor zurückblieb.
Holmes hob die losen Blätter, die den Entwurf des Testaments enthielten, vom Tische auf und betrachtete sie mit zunehmendem Interesse.
„Dieses Schriftstück gibt uns einige Anhaltspunkte, Herr Lestrade,“ sagte er endlich. „Sehen Sie es sich einmal genauer an.“ Er schob ihm die Blätter hinüber.
Der also Angeredete sah ihn erstaunt an.
„Ich kann nur die ersten Zeilen, die in der Mitte der zweiten Seite und ein paar am Schluss lesen; die sind ganz deutlich geschrieben,“ sagte er, „aber sonst ist die Schrift sehr schlecht, und an drei Stellen vollständig unleserlich.“
„Was schliessen Sie daraus?“ sagte Holmes.
„Ja, was schliessen Sie denn daraus?“
„Dass es in einem Eisenbahnzug geschrieben ist; die gute Schrift bedeutet die Stationen, die schlechte die Fahrt und die sehr schlechte die Durchfahrt durch Kreuzungsstellen. Ein gewandter Sachverständiger würde sofort erkennen, dass der Schreiber auf einer Vorortlinie gefahren ist, weil nur in der unmittelbaren Nähe einer Grossstadt die Haltestellen so schnell aufeinander folgen. Wenn man annimmt, dass er auf der ganzen Strecke geschrieben hat, so muss er einen Schnellzug benutzt haben, der zwischen Norwood und London-Bridge nur einmal hält.“
Lestrade fing an zu lachen.
„Sie gehen mir zu weit zurück, wenn Sie Ihre Theorien entwickeln, Herr Holmes. Was hat das mit der Sache zu tun?“
„Nun, es bestätigt und ergänzt die Aussage des jungen Herrn, dass Oldacre das Testament gestern unterwegs aufgesetzt hat. Es ist immerhin auffallend — nicht wahr? — dass jemand ein so wichtiges Schriftstück im Eisenbahncoupé niederschreibt. Es geht daraus hervor, dass er der Sache keinen besonderen praktischen Wert beilegt. Das kann nur ein Mann tun, der nicht daran denkt, diesen Willen jemals zu verwirklichen.“
„Und doch hat er zu gleicher Zeit damit sein eigenes Todesurteil niedergeschrieben,“ versetzte Lestrade.
„Aha, das ist Ihre Ansicht?“
„Meinen Sie das denn nicht auch?“
„Es ist nicht unmöglich; mir ist der ganze Fall aber noch nicht klar.“
„Nicht klar? Na, aber wenn das nicht klar ist, was ist dann überhaupt klar? Hier ist ein junger Mensch, der plötzlich erfährt, dass ihm ein grosses Vermögen zufällt, wenn ein bejahrter Mann mit dem Tod abgeht. Was tut er? Er sagt keinem Menschen was, sondern begibt sich eines schönen Abends unter irgend einem Vorwand zu seinem Gönner. Er wartet, bis die einzige Person, die noch im Hause wohnt, zu Bett gegangen ist, ermordet den alten Mann in seinem einsamen Schlafzimmer, verbrennt die Leiche in einem Holzhaufen und geht dann in ein nahegelegenes Hotel. Die Blutspuren im Zimmer und auch am Stock sind nur unbedeutend. Er hat also vielleicht gar nicht gemerkt, dass Blut geflossen ist, und gehofft, dass nach der Einäscherung des Leichnams jede Spur von der Art des Todes verwischt wäre — Spuren, die aus sprechenden Gründen auf ihn führen mussten. Ist das nicht alles fonnenklar?“
„Ihre Beweisführung, mein lieber Lestrade, kommt mir etwas zu klar vor,“ erwiderte Holmes. „Bei Ihren sonstigen vorzüglichen Eigenschaften vermisse ich die nötige Einbildungskraft. Wenn Sie sich nur einen Augenblick in die Lage dieses jungen Mannes versetzen wollten! Würden Sie gerade die Nacht nach der Aufstellung des Testamentes wählen, um das Verbrechen zu begehen? Würde es Ihnen nicht gefährlich erscheinen, eine so enge Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen herzustellen? Ferner, würden Sie das Verbrechen in der Nacht ausführen, wo Ihre Anwesenheit im Hause bekannt ist, wo Ihnen eine Bedienstete die Türe aufgemacht hat? Und endlich, würden Sie, nachdem Sie sich der schweren Mühe unterzogen hätten, den Leichnam durch Feuer zu zerstören, dann so unvorsichtig sein und Ihren eigenen Stock zum Zeichen, dass Sie der Täter sind, im Hause zurück lassen? Geben Sie nicht zu, Lestrade, dass dies alles recht unwahrscheinlich ist?“
„Was den Stock betrifft, Herr Holmes, so wissen Sie so gut wie ich, dass Verbrecher oft bestürzt sind und Handlungen begehen, die ein besonnener Mensch nicht unternehmen würde. Er fürchtete sich wahrscheinlich, wieder umzukehren, um ihn zu holen. — Geben Sie mir eine andere plausible Erklärung.“
„Ich könnte Ihnen leicht ein halbes Dutzend geben,“ sagte Holmes. „Wie denken Sie z. B. über folgende, die wohl möglich, ja gar nicht unwahrscheinlich ist? — ich stelle Ihnen gern anheim, davon Gebrauch zu machen —. Der alte Baumeister zeigte seinem Besucher wertvolle Papiere. Ein Landstreicher geht draussen vorbei und sieht es; die Jalousie war ja nur halb, heruntergelassen. Der Anwalt geht dann fort. Der Landstreicher steigt ein! Er ergreift einen Stock, den er gerade stehen sieht, schlägt Oldacre tot und verschwindet, nachdem er die Leiche auf den Holzhaufen geschleppt und ihn angezündet hat.“
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