„Warum sollte der Landstreicher die Leiche verbrennen?“
„Aus demselben Grunde, aus dem es Farlane getan haben soll.“
„Und warum hat der Kerl nichts mitgenommen?“
„Weil es Papiere waren, die er nicht verwerten konnte.“
Lestrade schüttelte den Kopf. Es schien mir aber doch, als ob er von der Richtigkeit seiner eigenen Theorie schon nicht mehr so fest überzeugt wäre wie vorher.
„Nun, Herr Holmes, suchen Sie Ihren Landstreicher, aber solange Sie ihn nicht gefunden haben, will ich mich an meinen Gefangenen halten. Die Zukunft wird ja zeigen, wer recht behält. Bedenken Sie besonders den Umstand, dass nach unserer bisherigen Kenntnis keinerlei Papiere entwendet sind und Farlane der einzige Mensch auf Gottes Erde ist, der an ihrer Entfernung kein Interesse hatte, weil er gesetzlicher Erbe war, und sie ihm also unter allen Umständen später zufallen mussten.“
Gegen diese Bemerkung konnte mein Freund nichts einwenden.
„Ich will nicht leugnen, dass Ihre Beweisführung in verschiedener Hinsicht glaubwürdig klingt,“ antwortete er. „Ich behaupte nur, dass es auch andere Erklärungen gibt. Wie Sie selbst sagen, wird die Zukunft entscheiden. Guten Morgen! Ich werde übrigens im Laufe des Tages nach Norwood hinunter kommen und sehen, wie weit Sie sind.“
Als der Detektiv hinaus war, stand mein Freund auf und traf seine Vorbereitungen für die nächsten Unternehmungen; er zeigte die frohe Miene eines Mannes, der sich einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Aufgabe gegenüber gestellt sieht.
„Mein erster Gang, Watson,“ sagte er, indem er in seinen Rock schlüpfte, „ist, wie erwähnt, nach Blackheath.“
„Und warum nicht nach Norwood?“
„Weil in diesem Falle zwei eigentümliche Ereignisse kurz aufeinander gefolgt sind. Die Polizei begeht den Irrtum, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das zweite zu lenken, weil dieses zufällig das Verbrechen vorstellt. Mir ist es jedoch klar, dass der richtige Weg zum Verständnis der zweiten Begebenheit, des Verbrechens, von der ersten, dem auffallenden Testament, seinen Ausgang nehmen muss. Ich will also versuchen, zunächst etwas Licht in den ersten Teil zu bringen, in das so urplötzlich und zu gunsten eines so eigentümlichen Erben gemachte Testament. Darnach werden wir den zweiten Teil leichter verstehen.“
„Soll ich mitkommen?“
„Nein, mein Lieber, ich glaube deine Begleitung heute nicht nötig zu haben. Diese Untersuchung ist gewiss nicht gefährlich, sonst würde ich mich wohl hüten, allein zu gehen. Ich hoffe, dir bei meiner Rückkehr heute abend die frohe Botschaft bringen zu können, dass ich für den unglücklichen jungen Herrn, der sich meinem Schutze anvertraut hat, etwas ausgerichtet habe.“
Es war spät, als mein Freund wiederkam, und ein einziger Blick auf sein bekümmertes Gesicht zeigte mir, dass die Hoffnungen, mit denen er weggegangen war, sich nicht erfüllt hatten. Ziemlich eine Stunde lang beschäftigte er sich mit seiner Geige, um sein unruhiges Gemüt zu besänftigen. Endlich warf er das Instrument beiseite und gab mir einen ausführlichen Bericht über seine Misserfolge.
„Es geht alles schief, Watson — so schief, wie’s nur gehen kann. Ich habe mir zwar Lestrade gegenüber keine Schwäche anmerken lassen, aber, meiner Seele, ich glaube, diesmal hat er recht, und wir sind auf dem Holzweg. Die Tatsachen widersprechen meinem Gedankengang und meinen Ahnungen vollständig, und ich fürchte stark, dass sich die englischen Gerichte noch nicht zu der idealen Auffassung emporgeschwungen haben, dass sie meinen Theorien den Vorzug vor Lestrades Tatsachenmaterial geben.“
„Warst du in Blackheath?“
„Jawohl, ich war dort und überzeugte mich bald, dass der selige Oldacre ein ziemlich gemeiner Charakter war. Farlanes Vater war auf der Suche nach seinem Sohne. Die Mutter traf ich zu Hause. Sie ist eine kleine, leicht erregbare Frau mit blauen Augen; sie zitterte vor Schrecken und Entrüstung. Selbstverständlich gab sie nicht einmal die Möglichkeit der Schuld ihres Sohnes zu. Aber über das Schicksal des alten Oldacre drückte sie weder Ueberraschung noch Bedauern aus. Im Gegenteil, sie sprach mit einer solchen Bitterkeit von ihm, dass sie, ohne es zu wissen, die Annahme der Polizei förderte. Denn natürlich musste der Sohn, wenn er solche Sprache über den Mann gehört hatte, von Hass und Widerwillen gegen ihn erfüllt sein. „Er glich einem bösartigen, hinterlistigen Affen mehr als einem Menschen,“ sagte sie, „und das war von jeher so, schon als junger Mensch war er so.“
,,,Haben Sie ihn denn damals schon gekannt?‘ fragte ich sie.
„,Jawohl, sehr gut; er war ja ’n alter Freier von mir. Gott sei Dank, dass ich so vernünftig war, mich von ihm loszusagen und einen besseren, wenn auch ärmeren Mann zu heiraten. Ich war mit ihm verlobt, Herr Holmes, als ich erfuhr, wie er eine Katze in ein Vogelbauer gesperrt hatte, und ich war so empört über diese Grausamkeit, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.‘ Sie suchte in einer Schublade herum und brachte die Photographie einer jungen Dame zum Vorschein. Das Bild war furchtbar verunstaltet und mit einem Messer zerschnitten. ,Das ist meine eigene Photographie,‘ sagte sie. ,In diesem Zustand hat er sie mir mit einem Fluch am Morgen meines Hochzeitstages zugeschickt.‘
„,Nun,‘ sagte ich, ,er scheint sich doch allmählich mit Ihnen ausgesöhnt zu haben, insofern er Ihrem Sohn sein ganzes Vermögen vermacht hat.‘
„,Weder mein Sohn, noch ich brauchen etwas von Jonas Oldacre, weder bei seinen Lebzeiten noch nach seinem Tode,‘ rief sie ganz erregt. ,Es lebt ein Gott im Himmel, Herr Holmes, und dieser Gott, der den Bösen gestraft hat, wird auch offenbaren, dass die Hände meines Sohnes unschuldig find an diesem Blute.‘
„Ich versuchte noch durch List, etwas Bestimmtes aus ihr herauszubringen, das unsere Annahme hätte stützen können, bekam aber nur solche Dinge zu hören, die eher das Gegenteil bewiesen hätten. So steckte ich’s schliesslich auf und ging nach Norwood.
„Das Deep Dene House ist ein grosser Backsteinbau in modernem Villenstil. Es steht etwas zurück, und davor ist ein Garten mit Lorbeergebüsch. Hinter dem Haus befindet sich der Hof, wo das Holz liegt, der Schauplatz des Schadenfeuers. Ich habe hier in meinem Notizbuch eine flüchtige Skizze. Das Fenster links ist das einzige in Oldacres Schlafzimmer. Man kann von der Strasse aus hineinsehen, wie du erkennen wirst — das ist ungefähr der einzige Trost, der mir geblieben ist. Lestrade war nicht da, er wurde durch seinen Wachtmeister vertreten. Sie hatten gerade einen wichtigen Fund gemacht. Beim Durchsuchen der Asche des verbrannten Holzhaufens hatten sie verkohlte Knochenreste und ein paar Metallstückchen zutage gefördert. Ich habe die letzteren sorgfältig untersucht und zweifellos festgestellt, dass es Hosenknöpfe waren. Ich habe an einem derselben sogar den Namen »Hyams« erkennen können, der Firma von Oldacres Schneider. Ich habe dann den Garten und den Rasen um das Haus herum genau nach irgendwelchen Spuren und Fährten durchforscht. Es war aber infolge der grossen Trockenheit weiter nichts zu sehen, als dass ein grösserer Gegenstand durch eine niedrige, in der Richtung nach dem Holzhaufen liegende Rainweiderhecke geschleift worden war. Dies alles bestätigt natürlich nur die Auffassung der Polizei! Ich bin lange trotz der brennenden Augustsonne auf dem Rasen umhergekrochen; ich war aber am Ende nicht schlauer als am Anfang.
„Nach diesem Fiasko begab ich mich ins Schlafzimmer und unterwarf es einer ebenso gründlichen Untersuchung wie den Hof und den Garten. Die Blutspuren waren äusserst geringfügig, fast farblos und wie umhergeschmiert, aber sicher frisch. Den Stock hatte die Polizei schon in Beschlag genommen, aber auch diese Blutflecken waren nur unbedeutend. Dass der Stock unserem Klienten gehört, unterliegt keinem Zweifel, er gibt es selbst zu. Die Fussspuren der beiden Männer waren auf dem Teppich zu erkennen, aber keine einer dritten Person, was wieder Wasser auf die Mühle der Gegenpartei ist, die ihrerseits die Verdachtsmomente zusammenreiht, während wir auf dem toten Punkt sind.
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