Ich tat, was er mich geheissen hatte. Infolge des Zuges erhob sich bald eine dicke graue Rauchwolke, das trockene Stroh prasselte, und die hellen Flammen schlugen empor.
„Nun müssen wir sehen, ob Ihr Zeuge herauskommt, Lestrade. Darf ich Sie bitten, gleichzeitig mit mir in den Ruf ,Feuer!‘ auszubrechen? Also: eins, zwei, drei —”
„Feuer!“ schrien wir alle.
„Danke Ihnen. Ich muss Sie noch einmal bemühen.“
„Feuer!“
„Nun zum drittenmal, meine Herren, so laut Sie können —”
„Feuer!“, Ganz Norwood muss es gehört haben.
Der Ruf war kaum verhallt, als etwas Ungeahntes eintrat. An der scheinbar soliden Wand am Ende des Korridors tat sich plötzlich eine Tür auf, und hervorstürzte, wie ein Kaninchen aus seinem Loch, ein kleines, schmächtiges Männlein mit grauem Haar und weissen Wimpern.
„Ausgezeichnet!“ rief Holmes. „Watson, einen Eimer Wasser aufs Stroh! Gut so! — Herr Lestrade, erlauben Sie, dass ich Ihnen den fehlenden Hauptzeugen vorstelle, Herrn Jonas Oldacre.“
Das kleine Männchen blinzelte, geblendet von dem hellen Tageslicht, unaufhörlich mit den Augen, und guckte bald uns an, bald das qualmende Stroh. Er hatte ein widerwärtiges Gesicht — verschmitzt und bösartig — und hellgraue, listige Augen.
Der Detektiv starrte die geisterhafte Erscheinung sprachlos an. Nach einer Weile fand er endlich wieder Worte.
„Was soll denn das heissen?“ sagte er. „Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt, he?“
Oldacre fuhr zurück, vor dem zorngeröteten Gesicht des Inspektors und erwiderte dann mit erzwungenem Lächeln:
„Ich hab’ nichts Böses getan.“
„Nichts Böses? Sie wollten einen unschuldigen Mann an den Galgen bringen. Wenn dieser Herr nicht gewesen wäre, würde es Ihnen wahrscheinlich auch gelungen sein.“
Das traurige Geschöpf fing an zu winseln.
„Sicher, Herr, es war nur ’n Spass.“
„Ein eigentümlicher Spass! Sie sollen nicht darüber zu lachen haben, dafür bin ich Ihnen gut. Nehmt ihn mit hinunter und haltet ihn im Wohnzimmer fest, bis ich komme. — Herr Holmes,“ fuhr er fort, als die Schutzleute hinunter gegangen waren, „ich konnte in Gegenwart der Leute nicht sprechen, aber im Beisein des Herrn Dr. Watson erkläre ich frei heraus: das ist der feinste Streich, den Sie je ausgeführt haben — es ist mir freilich noch ein Rätsel, wie Sie’s angefangen haben — Sie haben einen Unschuldigen gerettet und einen grossen Skandal verhütet, der meinen Ruf bei der Polizei untergraben haben würde.“
Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter.
Ihr Renommee in Scotland Yard soll durch diesen Fall bedeutend gehoben werden, mein guter Herr. Sie brauchen nur ein paar Stellen in Ihrem Bericht zu ändern, und alle Welt wird sagen, dass es schier unmöglich ist, dem Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.“
„Wünschen Sie denn gar nicht, dass Ihr Name erwähnt wird?“ fragte Lestrade verwundert.
„Durchaus nicht. Diese Tat birgt ihren Lohn in sich selbst. Vielleicht werde ich eines Tages, wenn ich meinem eifrigen Geschichtsschreiber die Erlaubnis erteile, die Genugtuung haben, sie gedruckt zu sehen — wie, Watson? Nun wollen wir uns mal das Nest ansehen, in dem die Ratte gesteckt hat.“
Es war ein sechs Fuss langer Bretterverschlag, von der Breite des Flurs; er war genau wie die übrigen Wände tapeziert und hatte einen unsichtbaren Zugang. Durch einige Ritze unter der Dachrinne drang spärliches Licht hinein. Darin befanden sich ein paar kümmerliche Möbelstücke, eine Anzahl Bücher und Papiere und ein Vorrat von Nahrungsmitteln und Wasser.
„Das ist der Vorteil, wenn man Baumeister ist,“ sagte Holmes beim Heraustreten. „Er war imstande, sein Versteck ohne fremde Beihilfe herzurichten — natürlich abgesehen von der prächtigen Wirtschafterin, die ich gleichfalls Ihrer Obhut anempfehlen möchte, Lestrade.“
„Sie soll entschieden ihrem Herrn das Geleite geben, Herr Holmes. Aber vor allen Dingen sagen Sie mir: Wie haben Sie Kenntnis von diesem Raum erlangt?“
„Ich kam zu dem Schluss, dass der Besitzer noch im Hause sein müsste. Als ich nun die Korridore abschritt und fand, dass der obere sechs Fuss kürzer war als der entsprechende untere, war es mir ganz klar, wo er steckte. Wir hätten natürlich ebensogut gleich hineingehen und ihn festnehmen können, aber es machte mit mehr Vergnügen, ihn selbst herauskommen zu lassen; ausserdem wollte ich mich durch die Geheimnistuerei für Ihre Spöttelei von heute morgen etwas entschädigen, Herr Lestrade.“
„Na, die haben Sie redlich wettgemacht. Aber, wie in aller Welt kamen Sie auf den Gedanken, dass er überhaupt im Hause verborgen sei?“
„Der Daumenabdruck sagte mir’s, Lestrade. Sie meinten, er wäre das Endglied der Kette; das war er auch, nur in einem ganz anderen Sinne. Ich wusste nämlich, dass er am Tage vorher noch nicht dort gewesen war. Ich schenke allen Einzelheiten eine weitgehende Beachtung, wie Sie wohl schon bemerkt haben werden, und ich hatte den Vorraum gründlich besichtigt und keinen Flecken an der Wand gefunden. Er musste also ohne Zweifel erst während der Nacht hingekommen sein.“
„Aber wie?“
„Sehr einfach. Als die Briefschaften versiegelt wurden, hat der junge Farlane einmal seinen Daumen als Petschaft benutzt. Es ist vielleicht in der Eile und ganz zufällig geschehen, sodass sich der junge Herr wohl selbst nicht mehr daran erinnern kann. Sehr wahrscheinlich ist es so unabsichtlich gewesen, dass auch Oldacre nicht gleich bedacht hat, wozu es ihm später nützen sollte. Als er in seinem Bau der Fall genauer überlegt hat, wird ihm erst eingefallen sein, was für ein absolut zuverlässiges Beweismittel er durch Benutzung dieses Abdrucks der Polizei liefern könnte. Auf die einfachste Art von der Welt konnte er einen Wachsabdruck davon machen, ihn mit einem Tropfen Blut von einem Stecknadelstich benetzen und über Nacht den Flecken an der Wand erzeugen. Ob er es nun selbst getan hat oder die Haushälterin, das weiss ich nicht, ist auch ziemlich gleichgültig. Dagegen gehe ich jede Wette mit Ihnen ein, dass Sie das Siegel mit dem Daumen finden, wenn Sie die Briefschaften durchsehen, die er in sein Versteck mitgenommen hatte.“
„Grossartig!“ rief Lestrade. „Grossartig! Wie Sie es auseinandersetzen, ist alles klar wie Kristall. Was aber ist der Grund dieses ganzen Betrugs?“
Es amüsierte mich, wie das hochmütige Verhalten des Inspektors von heute früh sich so sehr geändert hatte, und wie er sich nun gleich einem Kinde gebärdete, das Fragen an seinen Lehrer stellt.
„Ich halte es für nicht sehr schwer, diese Handlungsweise zu erklären. Der Herr, der jetzt unten wartet, ist eine sehr tiefgründige, bösartige und rachsüchtige Natur. Sie wissen doch, dass er einst von Farlanes Mutter den Laufpass bekommen hat? Sie wissen’s nicht! Ich sagte Ihnen gleich, dass man zuerst nach Blackheath und dann nach Norwood gehen müsste. Also, diese Kränkung, wie er es auffasste, hat ihm sein ganzes Leben lang keine Ruhe gelassen, er hat stets auf Rache gesonnen, ohne je eine günstige Gelegenheit zu finden. In den letzten ein oder zwei Jahren hat er Geldverluste gehabt — ich denke mir durch heimliche Spekulationen — und es geht rückwärts mit ihm. Er sucht seine Gläubiger zu beschwindeln und stellt hohe Wechsel aus, zahlbar an einen gewissen Cornelius, was meiner Meinung nach nur ein falscher Name seiner eigenen Person ist. Wenn ich die Spur dieser Wechsel auch noch nicht verfolgt habe, so unterliegt es für mich doch schon jetzt keinem Zweifel, dass sie nach einer Provinzialbank führt, wo Oldacre von Zeit zu Zeit unter diesem Namen aufgetaucht ist. Er hat die Absicht gehabt, dann überhaupt seinen Namen zu wechseln, das Geld einzuziehen und irgendwo ein neues Leben zu beginnen.“
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