Die Mauern erbebten unter dem Kanonenfeuer. Der scharfe Geruch des Pulverschleimes drang zu den Fenstern herein, doch Birgitte lauschte den Geschichten. Sogar Mette schien manchmal zuzuhören. Ide saß von morgens bis abends in der Fensternische. Jeden Nachmittag, wenn sich der Zeiger auf der goldenen Uhr der Vier näherte, lag der erste Lichtstreifen auf dem Boden. Gegen sechs Uhr abends spürte sie die Sonnenstrahlen deutlich zwischen den Schulterblättern. Die Zeit und der Lauf der Sonne wurden nicht von den Soldaten beherrscht.
Als nächstes die Prediger in der Wüste. Die Apostel. Und die Tierfabeln. Und dann das Gewimmel der gewöhnlichen Heiligen. Wunder über Wunder betäubten die Geräusche auf dem Burghof. Manchmal fügte Ide ein wenig auf eigene Rechnung hinzu. Die heilige Scholastica bekam ohne weiteres blondes Haar und eine helle Haut, weil die Seele der heiligen Frau den Körper in Gestalt einer wunderschönen weißen Taube verließ. Ide war einfach gezwungen, mit den Händen zu schlagen, als sie davon berichtete, obwohl gleichzeitig das Geschütz des Knudsturms donnerte und der Kalk von der Decke bröselte.
Birgitte stellte am Ende des Tages immer Fragen. Warum fast alle weiblichen Heiligen nein zur Ehe sagten. War es denn edler und feiner, nicht zu heiraten? Ob nur fremde Länder heilige Städte hatten – Rom, Venedig, Köln, Assisi. Und warum Dänemark Køge und Nyborg hatte, die gar nicht heilig waren. Und ob der heilige Nikolaus von Myra selbst Gold gemacht hatte, weil er es verschenkte.
Ide hatte nie so gefragt. Nicht einmal so gedacht. Vielleicht reagierten Kinder in unseren Tagen anders. Vielleicht war das Wunder am Karfreitag in der Karup-Kirche schuld, als Ide gerade neun Jahre alt war und das linke Auge der Marienfigur so feucht wurde, daß das bemalte Holz funkelte und glänzte, ehe drei Tränen auf das Jesukind in ihren Armen fielen.
Fast eintausendfünfhundert Jahre nach dem Martyrium weinte die Mutter Gottes bei der Erinnerung an den Tod ihres Sohnes. Sie zerrten Ide damals aus der Kirche, vorbei an den Schreienden, den in Ohnmacht Gefallenen und denen mit Krämpfen. Ihre Fersen schliffen über die Grabinschriften am Kirchenboden, und sie kam schluchzend ins Helle. Ihr Vater hielt sie auf dem ganzen Heimweg umfaßt. Es wehte von Osten, daran konnte sie sich erinnern. Am Abend starrte sie die fünf mondbleichen Säuglinge auf dem Gemälde an, deren Augen nach innen gerichtet waren. Ide hatte ihre Mutter nie über ihre toten Kinder weinen sehen. Vielleicht hatte Ide damals aufgehört, solche Fragen zu stellen wie Birgitte jetzt. Ide wußte nicht, ob solche Fragen vorher dagewesen waren.
Ides Wissen bestand aus Legenden. Nur daraus. Aber wenn die Nacht kam, bedrängten sie die vielen Geräusche des Tages.
Die Eisenketten hatten geächzt und geknarrt, als die Zugbrücke heruntergelassen wurde. Das Donnern der Pferdehufe auf den Planken beim Ausfall der Reiterei gegen den Feind.
Gewohnheitsmäßig und instinktiv wußte Ide viele Stunden später, daß wesentlich weniger zurückkehrten, als ausgezogen waren. Sie drehte sich nie um, wollte nicht sehen, was auf dem Burghof vor sich ging, begnügte sich mit den Geräuschen. Auf die Ausfälle folgte kein Rumpeln von Wagen, vollbeladen mit Beutegut aus dem feindlichen Heer. Ein letzter verspäteter Reiter in vollem Galopp, und die Brücke knallte gegen die Toröffnung. Das war alles.
Allmählich gingen ihr die Geschichten aus. Nur die letzten Lokalheiligen waren noch übrig. Die heilige Regisse war nicht so spannend, bedeutete nur etwas für Frørup auf Fünen. Margarethe von Hvideslægten konnte zur Not und mit viel Phantasie eine halbe Stunde ausfüllen.
Es war früh am Morgen, und Ide erwachte durch den Knall. Die anderen schliefen. Ide schlug die Decke zur Seite, schob den Vorhang weg und zog rasch das Hemd über.
Nur der eine Knall, aber der kam von weit weg und hatte anders geklungen. Nicht wie die Kanonen der Festung, auch nicht wie die Kanonen der Feinde am Ufer entlang.
Es war immer noch ruhig. Nichts außer dem üblichen Rufen und Poltern auf dem Burghof. Das Bellen der Hunde. Ein Hahn, der krähte. Ide ging zur östlichen Außenmauer und öffnete vorsichtig eine der Luken.
Die Sonne lag direkt unter dem Horizont hinten am Meer. Fünf Strahlen standen senkrecht nach oben, als streckten sie sich gähnend nach dem langen Schlaf der Nacht. Der lange, schmale Weg lag verlassen da. Mit den Händen über den Augen konnte Ide die Spitzen der Zelte am anderen Ufer erkennen. Alles wirkte normal, und der Morgen war wunderschön.
Plötzlich dieselbe berauschende Freude an dem Licht, wie das erste Mal, als Ide Nyborg sah. Alle diese Strahlen, die direkt auf ihre Person deuteten. Eine Schar Enten flog tief, einige davon aus dem Gelege dieses Jahres. Die jungen Schwäne waren noch grau. Ein Haubentaucher verschwand von der Oberfläche, und Ide spielte das Ratespiel aus der Kindheit: Wo er wohl wieder auftauchen würde? Sie riet jedesmal falsch.
Irgend etwas stimmt trotzdem nicht. Irgend etwas war anders. Ides Augen schweiften herum. Auf dem gegenüberliegenden Ufer lagen einige Haufen, aber schwer auszumachen, was da lag. Die Sonne war jetzt ganz oben. Golden, rund und herrlich funkelte sie auf dem Wasserspiegel in Tausenden von kleinen, goldenen Ablegern.
Aber der Weg hatte dunkle Ränder bekommen, wo sonst eine lange, graue Linie zu sein pflegte. Ide beugte sich weiter vor. Sie hielt immer noch beide Hände als Schutz vor dem Sonnenlicht über die Augen.
Die Ränder waren Algen und Seegras. Sie hingen in Streifen und Fransen von der kleinen, erhöhten Schottereinfassung herunter, und das Wasser zerrte daran. Ein Stein wurde plötzlich sichtbar. Der war vorher nicht da. Und eine Aushöhlung und dort zwei Löcher von Wasserratten.
Mit einem Ruck war Ide auf der Fensteröffnung. Die Mauer war so dick, daß sie sich ausgestreckt hinlegen mußte, um mit dem Kopf hinauszukommen und die östliche Festungsmauer hinunterschauen zu können.
Der Übergang war ein scharfer, waagrechter Strich. Der Unterschied zwischen den trockenen, roten Steinen und den dunklen und nassen, die vorher unter der Wasseroberfläche lagen. Das waren mehrere Fuß. Eher Ellen.
Ein scharfer Fäulnisgeruch stieg zu Ide herauf, und sie dachte, wenn alles Wasser weg war, würde der Schlüssel gefunden werden. Er lag ja auf dem Grund des Teiches.
Es war zu ärgerlich, daß sie nicht erleben durfte, wie ihnen das starke Gebräu ausging. Jetzt wurde sie um das Vergnügen gebracht zu sehen, wie man ihnen Dünnbier in die Becher schenkte. Eigentlich ein seltsamer Gedanke, einige Minuten bevor die Festung gestürmt werden würde.
Ide kroch zurück und blieb stehen. Was sollte sie eigentlich machen? Sie würden die Frau des Lehnsmannes jedenfalls nicht unten im Keller finden. Sie konnte ebensogut bleiben, wo sie war.
Der Klinkerboden war kalt, und sie stand im Hemd. Nicht einmal die stärkste Sommerhitze vermochte durch Nyborgs Mauern zu dringen. Das gelang den Kanonenkugeln auch kaum. Sie wollte zur Allerseligsten Jungfrau beten, aber das machte die Dienerschaft unten im Keller sicher ebenfalls. Das hatten auch die gemacht, die in den Flammen in Helletoften verbrannten. Ide erschrak über ihre Gedanken. Die Luke stand immer noch offen. Die konnte sie zumindest schließen, und sie drehte sich um.
Hinter dem Teich am gesamten Ufer entlang wuchs niedriges Gebüsch. Sie hatten da drüben Zweige an die Lanzen gebunden. Sie waren jetzt bereit. Der Wasserspiegel zeigte trockene Flecken, die sich ausbreiteten und das Sonnenflimmern in großen Happen verschlangen. Schlamm, Sandbänke, die pure Erde und der Weg hatten sich wie ein Deich bei Niedrigwasser abgehoben. Nyborg war wieder festländisch.
Ide schloß die Luke und schob den Bolzen vor. Wenn die Festung fiel, wurde sie Gefangene, wie Oluf auf Seeland Gefangener war. Der Gedanke gefiel ihr. Der Augenblick ließ ihn physisch anwesend sein. Er war da, bei ihr, um sie, in ihr wie nie zuvor.
Читать дальше