Er zuckte zusammen.
Ein unheilschwangeres Geräusch kam näher und gellte in seinen Ohren, das schlimmste aller Geräusche, das, vor dem er am meisten Angst gehabt hatte. Eine Sirene. In seinen Träumen hatte er sie gehört. Die Sirene eines Polizeiautos. Rasch wurde sie lauter, dröhnte in seinem Kopf und trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn. Die Bullen kamen. Der verdammte Filialleiter musste unbemerkt den Alarm ausgelöst haben.
Lisa erschien in der Türöffnung.
»Siehst du was?«
»Nein.«
Als ginge ihnen in diesem Moment derselbe Gedanke durch den Kopf, wandten beide ihre Köpfe ruckartig zur Frau des Filialleiters um. Diese schien nicht minder erschrocken, und Roger begriff, warum. Sie hatte gedacht, dass die Bankräuber sie in Ruhe lassen und sich aus dem Staub machen würden, sobald sie die Beute verstaut hatten. Jetzt rechnete sie offenbar mit einem möglichen Geiseldrama mit den schlimmsten Folgen für ihre kleine Familie.
Während Lisa sich ans Fenster stellte, um hinauszusehen, war Roger wie gelähmt und konnte seinen Blick nicht von Mutter und Tochter wenden. Eigentlich wollte ich gar nicht mitmachen . Er krümmte die Zehen zusammen, während das Geräusch zu einem ohrenbetäubenden Crescendo anschwoll.
Als das Heulen schwächer wurde und einen völlig anderen Charakter annahm, wurde Roger beinahe übel vor Erleichterung. Das nannte man Dopplereffekt, so viel wusste er. Der Einsatzwagen war an der Vorderseite der Bank vorbeigefahren und entfernte sich. Dass ihm der Schweiß nicht in die Augen lief lag daran, dass er von dem Stoff über der Stirn aufgesaugt wurde. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen. Es glotzte Lisa an, die sich zu Roger umdrehte und ihm einen freundschaftlichen Stoß gab. Aus Erleichterung, glaubte er. Roger schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte, und spürte die Feuchtigkeit seiner Handflächen in den Handschuhen. Und als er von einem Bein auf das andere trat, bemerkte er, wie weich seine Knie geworden waren. Er verfluchte denjenigen, der die Polizei oder einen Krankenwagen verständigt hatte. Beim nächsten Schreck würde er vor Angst umkommen.
Lisa lief aus dem Zimmer, war aber im nächsten Moment zurück und winkte die Geiseln mit der Hand zu sich. »Schnell jetzt!«
Die Frau legte dem Kind den Arm um die Schultern und führte es zur Tür. Sie folgten Lisa auf den Flur und in das Nebenzimmer hinein. Roger, der hinter ihnen herging, blieb in der Türöffnung stehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war keineswegs überraschend. In dem spärlich eingerichteten Raum war nur sehr wenig Platz. Die hellgrünen Wände hatten keine Fenster. Die Tür des Tresors stand offen. Der untersetzte Filialleiter hatte seinen Mantel über den einzigen Stuhl des Raumes gelegt. Er stand kerzengerade da und ließ die Hände schlaff herunterhängen, als müsse er sich von schwerer Arbeit erholen. Frank hatte sicher nur zugeschaut, während der Mann die Geldbündel aus dem Safe geholt hatte. Dem Filialleiter huschte ein Lächeln übers Gesicht, als er sah, dass Frau und Tochter unversehrt waren. Sie stellten sich neben ihn. Frank nahm die Tasche und trug sie auf den Gang hinaus. Sie schien nicht mehr leer zu sein.
»Schieß, wenn sie Schwierigkeiten machen!«, sagte er zu Roger.
Zusammen mit Lisa trat er auf den Gang hinaus. Roger rechnete damit, dass sie noch das Geld, das sich möglicherweise in den Kassen im Schalterraum befand, mitgehen lassen wollten. Frank hatte anfangs zwar gesagt, er scheiße auf das Kleingeld, aber jetzt schien er es sich anders überlegt zu haben. Weil die Ausbeute bisher enttäuschend war? Weil seine Gier überhand genommen hatte? Herrgott, sie sollten sehen, dass sie die Kurve kriegten, bevor doch noch jemand Alarm auslöste und ihre Träume zunichte machte. Die nächste Sirene konnte ihnen gelten.
Glücklicherweise schienen die drei Menschen, die sich eng aneinander drückten, um ihr Leben zu fürchten. Er sah keinen Anlass mehr, sie zu zwingen, die Hände nach oben zu halten. Das Mädchen hatte aufgehört zu schluchzen. Es stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte seinen Eltern etwas zu. Sie erschießen? Nein, es würde nicht einmal notwendig sein, einen Warnschuss abzugeben. Frank konnte das unmöglich ernst gemeint haben. Doch wusste er eigentlich, wie weit dieser in einer prekären Situation gehen würde? Dieser Gedanke ließ ihn frösteln. Er respektierte und bewunderte Frank, der ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Dennoch lag etwas Finsteres und Bedrohliches in seinem Blick, das ihm Angst machte. Was war mit ihm selbst, Roger Dalvang? War er viel besser? Vor nicht einmal einer Woche hatte er – nach reiflicher Überlegung – das Gewehr auf sich selbst gerichtet, um seinem Leben ein Ende zu machen. Aber das war etwas ganz anderes gewesen. Eigentlich sollte er nicht zulassen, dass Eltern und Tochter miteinander tuschelten; der Filialleiter konnte dies als Zeichen der Schwäche deuten.
»Was sagt die Kleine?«
Der Klang seiner Stimme ließ sie zusammenschrecken, was ihm gut gefiel. Er hatte sie unter Kontrolle.
»Sie sagt nur, dass die Frau Lisa heißt«, antwortete die Mutter.
»Hm.«
Das Mädchen hatte offenbar gut aufgepasst, als sie unvermutet in der Tür gestanden und Frank ihn aufgefordert hatte, Lisa zu holen. Doch erst als der Filialleiter seiner Frau einen warnenden Blick zuwarf, begriff Roger, was es bedeutete, dass Frank in seiner Erregung den Namen einer Komplizin ausgeplaudert hatte. Damit hatte die Polizei einen ersten Anhaltspunkt bei der Fahndung nach ihnen. Frank war bei weitem nicht so professionell, wie er vorgab. Er hatte sie zu größter Wachsamkeit angehalten, und dann beging er selbst bei der ersten Gelegenheit einen so kapitalen Fehler. Dieses eine Wort konnte ausreichen, um sie alle hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Jetzt hatte er nicht nur kalten Schweiß auf der Stirn, sondern spürte, wie ihm kleine Bäche aus den Armhöhlen hinunterliefen. Ihm war klar, dass er Frank, der gesagt hatte Schieß , wenn sie Schwierigkeiten machen , warnen sollte. Er blieb im Türrahmen stehen und trippelte auf der Stelle, vor Unschlüssigkeit – und vor Angst. Was war, wenn Frank beschloss, die drei wegen seines Leichtsinns – seines eigenen Leichtsinns! – einfach umzubringen?
Der Filialleiter hatte den Kopf gehoben und blickte ihn mit sonderbarem Ausdruck an. Ahnte er, dass Roger in diesem Moment mit seinem Gewissen rang?
Roger entschloss sich zu schweigen, zumindest vorläufig. Lisa war doch ein ziemlich geläufiger Name. Wenn sie nur endlich fertig würden und die verdammten Münzen liegen ließen. Die ganze Aktion war sehr viel schlimmer, als er sie sich vorgestellt hatte. Obwohl sie als Angreifer die Oberhand hatten, piesackte ihn die Angst wie eine Horde aufgeschreckter Ameisen. Innerhalb der Familie wurde kein Wort mehr gewechselt. Sie schauten ihn bloß ernst und anklagend an, starrten so, dass sein Zwerchfell schmerzte und die Wut in ihm hochkochte. Kein Laut war zu hören. Keine Uhr tickte, um zu signalisieren, dass die Zeit verstrich. Nicht ein Laut ... Eine neue Angst hatte ihn im Nacken gepackt – was war, wenn Frank und Lisa gar nicht nach Kleingeld suchten? Wenn sie die Bank durch den Vordereingang verlassen hatten und sich längst im Auto befanden, um von hier zu verschwinden? Für den Bruchteil einer Sekunde sah er den Corolla in Richtung Süden fahren, Frank lächelnd am Steuer, Lisa lächelnd neben ihm und die Geldtasche auf dem Rücksitz. Lächelnd, weil sie keine Verwendung für den Amateur Roger Dalvang mehr hatten. Er umfasste die Waffe noch fester, packte zu, um nicht die Besinnung zu verlieren. Aber das reichte nicht aus. Er musste nachschauen, ob sie ihn nicht im Stich gelassen hatten. Schon wollte er Frank! rufen, hütete sich aber im letzten Moment davor, dessen Fehler zu wiederholen. Im Grund konnte er sich bei dem kleinen Mädchen bedanken, das plötzlich die Stille gebrochen hatte:
Читать дальше