Lisa hatte ihn zu trösten versucht: »Du wolltest dich nicht wirklich töten. Das war nur ein Hilferuf. Du hast die Musik so laut aufgedreht, damit jemand auf dich aufmerksam wird.«
Dieses Gewäsch kannte er von neunmalklugen Psychologen aus Büchern und Zeitungen. Natürlich hatte er sich umbringen wollen! Genau wie Jøran war er so weit unten gewesen, dass er nur noch den Wunsch verspürt hatte, seinem Elend ein Ende zu setzen. Doch er widersprach Lisa nicht; sie meinte es ja nur gut mit ihm. Und alles in allem verstand sie ihn besser als die meisten anderen. Kein Zweifel, dass auch sie und Frank einiges durchgemacht hatten, wenngleich Frank die innere Stärke zu haben schien, alles zu verdrängen, was sein Selbstwertgefühl beeinträchtigen könnte:
»Es gibt nur einen Weg, Roger! Wieder aufzustehen und es noch mal zu versuchen.«
»Denkst du, das hätte ich nicht getan? Aber ich bin so fertig gemacht worden, dass ich am Ende keine Kraft mehr hatte. Hast du verloren, dann hast du verloren!«
»Okay. Aber ein Gewehr kannst du immer auch in die andere Richtung halten. Nenn es meinetwegen Schicksal, aber auf genau so eine Knarre habe ich noch gewartet. Außerdem werde ich dafür sorgen, dass du eine anständige Bezahlung bekommst.«
»Die ist unverkäuflich.«
Frank brach in schallendes Gelächter aus. »Du verstehst mich völlig falsch, ich suche einen Assistenten! Mit zwei Knarren können wir den Bruch machen, den Lisa und ich schon geplant haben.«
»Ich habe noch nie ...«
»Aber ich! Hab sogar dafür gesessen. Doch diesmal werde ich keinen Fehler machen. Schicksal, mein Junge. Schicksal!«
Seine Nachbarn hatten ihm, beide auf ihre Weise, ein wenig Selbstvertrauen zurückgegeben. Das musste doch irgendeinen Sinn haben. In größter Not war Frank erschienen und hatte ihm Hoffnung auf bessere Zeiten gemacht. Man musste sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, war sein Credo.
Und damit hatten sie bereits angefangen!
Der enge Hinterhof kam ihm nicht weniger deprimierend als seine Wohnung vor. Die meisten Holzhäuser in der Sandgata, die zur Straße hin eine zusammenhängende Fassade bildeten, waren jüngst renoviert worden, nur die verwahrloste Bruchbude des Hausbesitzers T. Olsen blieb eine Schande für das gesamte Viertel. Während der Eigentümer noch halbwegs standesgemäß im ersten Stock mit Seeblick wohnte, lagen die beiden anderen Wohnungen in dem Flügel, der sich entlang des Hinterhofs erstreckte. Sie verfügten zwar über separate Eingänge, dafür aber weder über eine Aussicht noch nennenswertes Tageslicht. Die bräunlich gelben Farbreste, die sich an der Fassade befanden, ließen Roger an getrocknete Tierexkremente denken. Dazu passte der Geruch im Inneren des Gebäudes: muffig, schimmelig und verfault. Vielleicht drangen die Abwässer der Kanalisation ins Erdreich und waren für den ekelhaften Gestank verantwortlich, über den auch die günstige Miete nicht hinwegtrösten konnte. Doch jetzt wollten sie von hier verschwinden, sie alle drei. Ein neues Dasein lockte. Wenn, besser gesagt falls sie jemals zurückkehrten, dann nur, um ein paar Gegenstände mitgehen zu lassen und Olsen Bescheid zu geben, dass er sich neue Mieter suchen konnte.
Lisa verstaute einige Taschen mit Proviant und Klamotten im Kofferraum. Dann nahm sie mit der Adidastasche, in der sich drei schwarze Jogginganzüge befanden, auf dem Rücksitz Platz. Als Roger den Wagen aus der Einfahrt rollen ließ, saß Frank sichtlich entspannt neben ihm.
»Fahr du«, hatte er gesagt. »Ich muss ein paar Monate ohne meinen Lappen auskommen, und wer weiß, ob wir nicht in eine Kontrolle geraten.«
Allein die Tatsache, dass sie sich von dem Gebäude entfernten, empfand Roger als Befreiung. Sie hatten sich die letzten Tage im Schutz der Wohnungen aufgehalten, und niemand hatte nach ihnen gefragt. Lisa hatte die nötigen Einkäufe erledigt, während Frank das Gerücht in Umlauf gesetzt hatte, sie befänden sich in Oslo. Dorthin waren sie am Sonntagabend vorgeblich abgereist. Der stocktaube Olsen ahnte nicht, dass sich seine Mieter immer noch in ihrer Wohnung aufhielten. Solange sie pünktlich bezahlten, war ihm das auch vollkommen gleichgültig. Frank hatte einen Kumpel in Torshov, der ihnen gegebenenfalls ein Alibi verschaffen konnte. Aber das würde nicht notwendig werden. Diesmal war alles so perfekt geplant, dass die Bullen keine Spuren finden konnten. Und falls doch, dann würden sie in die falsche Richtung weisen. Dafür hatte Frank gesorgt.
»Ah, was für ein Sturm!«, rief er aus und deutete über den Fjord, als sie bei Skansen über die Eisenbahnbrücke fuhren. Sie erblickten einen Frachter, der durch die hohen Wellen schlingerte.«
»Hilft der uns weiter?«
»Ja, der kommt wie gerufen.«
Roger fuhr den Osloveien hinunter, der aus der Stadt herausführte. Sie passierten die Eisenbahnreparaturwerkstatt in Marienborg und fuhren am Fluss namens Nidelv entlang. Er fühlte sich in der Form seines Lebens. Einen solchen Höhenflug hätte er nach dem dunkelsten Kapitel seines Daseins nicht für möglich gehalten. Noch vor wenigen Wochen hätte er die Beteiligung an einem so wahnwitzigen Vorhaben wie einem Banküberfall strikt verweigert. Doch jetzt fand er nichts Außergewöhnliches mehr daran. Natürlich hatte er sich eine Weile geziert, aber nachdem ihm Lisa, die im Grunde ganz normal und Vertrauen erweckend aussah, klar gemacht hatte, wie leicht es war, eine Bankfiliale auszurauben, hatte er Blut geleckt. Sie hatte ihn darüber aufgeklärt, wie wenige es waren, die sich erwischen ließen – »Profis kommen immer durch« –, hatte ihn mit ihren klaren, hungrigen Augen fixiert und ihm erläutert, dass Franks Plan mit neunzigprozentiger Sicherheit gelingen würde. »Die restlichen zehn Prozent riskiere ich eben, und das solltest du auch tun. Was haben wir schon zu verlieren!« Er hatte genickt und eingesehen, wie Recht sie hatte. Und als Frank daraufhin eine Skizze zu Papier brachte und die Vorgehensweise erläuterte, begriff Roger, dass dies seine große Chance war. Hatte er davon nicht immer geträumt, es allen zu zeigen und sich ein für alle Mal auf die Sonnenseite des Lebens zu schlagen?
Zwar bebte er innerlich, aber das taten die anderen sicherlich auch. Vor gespannter Erwartung natürlich, nicht vor Angst.
»Nein, nicht die E6, wir nehmen die alte Landstraße Richtung Heimdal«, sagte Frank, als Roger abbiegen wollte.
Vor ein paar Tagen hatte es heftig geschneit, zum ersten Mal in diesem Winter. Aber das Auto hatte gute Reifen und Roger keine Probleme, die kurvige Straße bergauf zu fahren, obwohl er mit dem Wagen nicht vertraut war. Das ziemlich neue und gut ausgestattete Fahrzeug fuhr wie von allein. Er hatte seinen Führerschein beim Militär gemacht, bevor ihn ein Arzt wegen gewisser »psychischer Auffälligkeiten« für nicht fahrtauglich erklärte. Hätten seine verhassten Vorgesetzten nur gewusst, was für einen Gefallen sie ihm damit taten!
Frank fingerte an einem kleinen Radio herum, das in seinem Schoß lag. Er hatte es in Schweden mitgehen lassen und behauptete, es könne, im Gegensatz zum Autoradio, auch Polizeifunk empfangen. Auf diese Weise würden sie erfahren, wie viel Arbeit die Bullen darauf verwendeten, den Corolla aufzuspüren. Hin und wieder hörten sie schwer verständliche Anweisungen, und Roger begriff, dass Frank nicht gelogen hatte. Dass der Empfang so schlecht war, lag sicher an dem hügeligen Gelände.
Sie brauchten zwölf Minuten bis zum Bahnhof von Heimdal. Dank Rogers schneller Arbeit bei der Beschaffung des Wagens waren sie eine halbe Stunde früher dran als geplant, doch Frank meinte, es sei in jedem Fall richtig gewesen, sofort loszufahren, falls Olsen doch früher nach Hause käme und bemerkte, dass seine Mieter erst heute nach Oslo aufbrachen. Die Bankfiliale schloss um 16 Uhr. Erst danach wollten sie zuschlagen. Dieser Überfall sollte aus dem Hinterhalt stattfinden und dem Personal keine Gelegenheit bieten, den Alarm auszulösen. Zumindest nicht, bevor die Bankräuber die Filiale wieder verlassen hatten. Frank hatte zugegeben, dass er rein zufällig auf die Idee gekommen war. Im Herbst, bevor er zu Lisa gezogen war, hatte er sich in Heimdal eine Wohnung gemietet, die dem Hintereingang der Bank gegenüberlag. Ihm war aufgefallen, dass die Bankangestellten die Filiale nach Geschäftsschluss immer in einer bestimmten Reihenfolge verließen. Ob dies geplant oder ein Zufall war, spielte keine Rolle. Die drei weiblichen Angestellten gingen zuerst, manchmal nacheinander, manchmal gemeinsam, und verschwanden zu Fuß oder auf ihren Fahrrädern. Es dauerte immer ein paar Minuten, bis der Filialleiter ihnen folgte und in seinen alten Audi stieg. Vermutlich benötigte er die Zeit unter anderem, um die Geldkassetten im Safe unterzubringen.
Читать дальше