Sein Verein, seine Mitspieler, sein Trainer und sein Berater würden nicht wollen, dass er dieses Buch schreibe, hat er in einem Interview erzählt. Die Maske des Pseudonyms schützt jedoch nicht nur vor negativen Reaktionen des Umfelds, wie es in der Fußballersprache heißt – sie schärft dem SF in erster Linie den Blick auf sich selbst. Der SF schreibt über seinen Kampf gegen Depressionen, seine Unsicherheit in der Kabine als Jugendlicher. Wie einsam man sich fühlt, wenn man seine besten, ältesten Freunde mit der Bestellung einer 2.000-Euro-Flasche Wein versehentlich vor den Kopf stößt. Über das Misstrauen, mit dem sich selbst Kumpels in der Kabine beäugen. Und darüber, was die Fußballer wirklich von ihren Fans halten (nicht sehr viel).
So brutal offen und gleichzeitig so reflektiert wurde über den Alltag eines Profifußballers auf der Insel seit Eamon Dunphys Only a Game? , einem fesselnd-verstörenden Buch über eine verregnete, deprimierende Saison (1973/74) beim Zweitligisten FC Millwall, nicht mehr geschrieben. Der Secret Footballer und seine Enthüllungen wurden zur Sensation. Was Sportbücher angeht, verkauften sich 2012 in Großbritannien nur die Biografien der Olympiahelden Jessica Ennis, Tom Daley und Bradley Wiggins besser. In den Pubs hatte man zeitweise das Gefühl, dass alle Konversationen nur noch um die Identität des SF kreisten. Noch immer vergleicht eine Armee von Hobbydetektiven mit Mitteln der Google-Rasterfahndung biografische Hinweise aus dem Buch mit den Lebensläufen von aktiven Spielern, auf der Internetseite www.whoisthesecretfootballer.co.ukstellen Enthusiasten YouTube-Clips zusammen, die mit Szenen aus dem Buch übereinstimmen könnten. Die Fangemeinde kommt dabei regelmäßig zu völlig neuen Ergebnissen, denn der SF hat absichtlich auch ein paar falsche Fährten gelegt.
Das Publikum kann sich für diesen Spaß bei einem Immobilienmakler bedanken. Leider weiß es nicht, bei welchem. In der Wochenendausgabe der britischen Financial Times berichtete von 2007 bis 2012 ein anonymer „Secret Agent” über die fremde, absurde Welt des globalen Jetsets und dessen Jagd auf Luxusobjekte in der britischen Hauptstadt. Der SF las regelmäßig die Artikel und hatte Ende 2010 die Idee, so etwas Ähnliches für den Fußball zu machen. Es gibt ja eindeutige Parallelen. Die Premier League wird ebenfalls von Multimillionären bevölkert, die die sofortige Erfüllung ihrer Wünsche erwarten. Und genau wie Immobilienmakler, die auf der Insel als eine der am wenigsten vertrauenswürdigen Berufsgruppen gelten – nur Politikern, Bankern und Journalisten glauben die Briten laut einer Umfrage des Daily Telegraph aus dem Jahr 2012 weniger –, stehen auch Profikicker im Verdacht, ihre Kunden beziehungsweise Fans öfters ein wenig für dumm verkaufen zu wollen. Die Wahrheit liegt nicht (nur) auf dem Platz.
Der SF kontaktierte den Guardian , im Januar 2011 wurde seine erste Kolumne veröffentlicht. Das Stück handelte vom schwierigen Umgang der Profis mit dem Nachrichtendienst Twitter. Es war interessant, die überwiegend positiven Reaktionen der Leser in den Online-Kommentaren zu verfolgen, denn der SF hatte die asymmetrische Kommunikation im Netz auf den Kopf gestellt: Hier war ausnahmsweise nicht der User anonym, sondern der Journalist. Kurioserweise nahmen die Leser ihm seine Erlebnisse gerade deswegen ab.
Die Kolumne wurde zum großen Erfolg, das Buch machte den SF zum kulturellen Phänomen. Auf seiner Internetseite www.the-secretfootballer.comschreiben mittlerweile auch geheime Experten, Journalisten, Spielerfrauen, Fans und Sportmediziner über das Spiel.
Vieles, was der SF und seine anonymen Mitstreiter über den englischen Fußball berichten, ist nicht sehr schmeichelhaft. Sie malen das Bild eines Sports, der im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs die Bodenhaftung mehr oder minder komplett verloren hat. Zugleich haben all die indiskreten, lustigen, beängstigenden Anekdoten, die der SF verrät, den Fußball und seine Protagonisten wieder viel näher an sein Publikum zurückgeführt. Der aufregende, vielschichtige Blick hinter die Kulissen erlaubt, was das Hochglanzprodukt Premier League normalerweise verhindert: die Anteilnahme mit den Aktiven. Der Secret Footballer und sein faszinierendes Buch sind – trotz des Zynismus und der Desillusionierung, die aus ihm sprechen, trotz der Sex-Skandale, Alkoholexzesse und obszön vielen Nullen auf dem Konto – vielleicht sogar das Beste, was dem englischen Fußball im Annus horribilis 2012 passieren konnte. Einen Europameisterschaftstriumph gegen die Deutschen (im Elfmeterschießen?) ausgenommen, versteht sich.
Raphael Honigstein, Jahrgang 1973, berichtet unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und den britischen Guardian über englischen und deutschen Fußball. Er ist der Autor von Harder, Better, Faster, Stronger: Die geheime Geschichte des englischen Fußballs (2006) und arbeitet als Bundesliga-Experte für den amerikanischen Sender ESPN.
Einleitung
Von Paul Johnson
DIESESBuch ist nicht als reißerischer Enthüllungsreport für sensationslüsterne Voyeure gedacht. Seitdem der Secret Footballer Anfang 2011 seine erste Kolumne für den Guardian verfasste, wurden zahllose Versuche unternommen, seine Identität zu enthüllen. Dazu unterwarfen eifrige Tüftler seine Texte und die darin genannten Namen, Orte, Spiele und Vereine einer geradezu forensischen Analyse. In Fanforen wird kontrovers und kenntnisreich diskutiert, es gibt sogar eine Website, die sich nur diesem Thema widmet: whoisthesecretfootballer.co.uk. Mehrere Dutzend Spieler sind bereits als Secret Footballer ausgemacht worden. Je nachdem, wer als Kandidat gehandelt wird, spielt er für Blackburn, Sunderland, Fulham, Bolton, Wolverhampton, Burnley, Newcastle, Leicester, Liverpool, West Ham, Everton, Spurs, Birmingham oder Celtic. Und noch ein paar andere.
Seinem Wikipedia-Eintrag zufolge ist er Engländer und hat für mindestens zwei Premier-League-Klubs gespielt. Die Debatten und das Rätselraten sind ebenso unterhaltsam wie nachvollziehbar – und vielleicht wird der Secret Footballer eines Tages seine wahre Identität preisgeben. Um aber weiterhin so detailreich über das Geschäft und die beteiligten Personen schreiben zu können, muss er einstweilen anonym bleiben. Seine ehemaligen Klubs wären über seine Offenherzigkeit alles andere als erfreut und würden ihm vermutlich Vertragsbruch vorwerfen. Auch sein Berater hätte wenig Verständnis, ganz zu schweigen von seinen früheren Trainern.
Der Secret Footballer erzählt, wie es ist, gegen Manchester United ein Tor zu schießen, oder auch, John Terry „mit Schmackes in die Waden” zu treten. Er beschreibt sein Leben als Profi mit einem über 1,4 Millionen Pfund dotierten Vertrag (sowie einer monatlichen Hypothek von 19.000 Pfund) und den, wie er es ausdrückt, „ganz neuen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung”. Er berichtet von gerissenen Betrügern, Geldumschlägen, den Deals, den komplizierten Prämien; von hinterhältigen und verständnisvollen Trainern; von guten und schlechten Teamkameraden; von den Medien, den Frauen und den Ausschweifungen; er lässt nichts aus, weder die unterhaltsamen Anekdoten noch die erschütternden.
Aber der Secret Footballer ist anders als die anderen, und das war schon früh in seinem Leben so. Er erzählt von der ärmlichen Wohnsiedlung, in der er aufgewachsen ist, und von den gebrauchten Turnschuhen, in denen er als Junge spielte. Er stammt aus bescheidenen, aber geborgenen Verhältnissen. Wir erfahren, dass sein Vater ihn ermunterte, Klassiker wie Shakespeare, Dickens und Joyce zu lesen. Zum Profifußball kam er nicht auf dem üblichen Weg, und er hatte mit dem Widerspruch zu kämpfen, als Fußballprofi einerseits seinen Traum leben zu dürfen, andererseits von der Realität des Geschäfts zermürbt zu werden. Das gleiche Spannungsfeld wird in seiner Entschlossenheit deutlich, seine Herkunft aus der Arbeiterklasse nicht zu verleugnen, während er eine Vorliebe für edle Weine und kostspielige Urlaube entwickelte. All dieser Druck machte ihn unsicher, verschlossen und unberechenbar, bis er ganze Tage nur damit verbrachte, nach dem Training zu Hause auf einem Stuhl zu sitzen. Wie er schließlich Hilfe suchte und fand, davon erzählt der Secret Footballer ohne Bedauern als einer unveränderlichen Realität seines Lebens.
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