„Sie tragen doch praktisch so etwas wie eine Uniform, wenn Sie ständig solche Klamotten anziehen, Brenda. Sie behaupten, Ihre Eltern trügen Uniformen. Zum Teufel, was glauben Sie eigentlich, was zerlumpte Hemden und verschossene Bluejeans sind, he? Mir persönlich ist’s piepegal, was Sie zur Hochzeit Ihrer Schwester anziehen, aber Ihre Eltern haben bestimmt gute Gründe, wenn sie nicht wollen, daß Sie aus einem falsch verstandenen Kreuzzug heraus einen Skandal inszenieren!“
„Falsch …?!“ kreischte das Mädchen nun wieder in lautestem Crescendo.
„Sicher ist es falsch“, sagte Dr. Brandywine. „Ich persönlich habe nichts gegen lange Haare oder gegen die sonstige Aufmachung Ihrer Generation einzuwenden. Es ist eben ‚in‘, langes Haar zu haben. Deshalb trage ich ja mein Haar auch ziemlich lang. Ich habe Koteletten, und es gefällt mir, wie ich damit aussehe. Aber ich erinnere mich noch daran, wie meine Mutter einen Anfall bekommen hatte, weil meine Schwester mit einem Jungen ausgehen wollte, der einen Bürstenhaarschnitt hatte. Er trug damals auch diese Uniform der Jugend. Damals war es zufällig eine Hose, deren Beine am unteren Ende fast einen Meter breit waren. Dazu enorm breite Schultern … ausgestopft. Meine Mutter war entsetzt.“
„Was hat das alles damit zu tun, daß ich jetzt hier in Ihrer Praxis herumsitzen muß?“
„Ich sage Ihnen nur, wie die Dinge stehen.“
Das Mädchen schnaubte verächtlich, dann knurrte es ihn an: „Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Werde ich auch tun. Ich werde Sie nicht einmal ins Krankenhaus einweisen, was Ihre Eltern doch nur einen Haufen Geld kosten würde. Sie haben sich genausowenig wie ich das Leben nehmen wollen. Lassen Sie also das Theater, Brenda. Ich weiß genau, wieviel Tabletten Sie genommen haben. Es waren drei. Und diese Verletzungen an Ihren Handgelenken sind doch nur oberflächlich.“
„Sie sind ein … ein Lügner!“ platzte das Mädchen heraus. „Es waren mehr Tabletten!“
„Na, schön … dann also vier. Und dann begannen Sie mit dem Akt ‚Sterbender Schwan‘. Mit dem Versuch, Ihren Willen wie üblich durchzusetzen, haben Sie Ihren Vater halb zu Tode geängstigt und Ihre Mutter in einen Zustand nervöser Hysterie versetzt … und die Hochzeit Ihrer Schwester verdorben!“
Das Mädchen sprang auf und schrie dem Arzt eine ganze Reihe von Obszönitäten ins Gesicht.
Dr. Brandywine verzog keine Miene.
Schließlich setzte sich das Mädchen wieder hin und begann zu schluchzen.
„Es ist mir egal … es ist mir egal … es ist mir egal!“ sagte sie wieder und immer wieder. „Lola war immer ihr Liebling! Ich bin froh, daß ihre Hochzeit ein Skandal wurde.“ „Sie sind ein ungezogenes, garstiges kleines Ding. Sie brauchen keine psychologische Fürsorge. Was Sie brauchen, ist eine gehörige Tracht Prügel.“
Das Mädchen brach mitten im Schluchzen ab und starrte ihn an.
„Sie wollen mich also wirklich nicht ins Krankenhaus stecken? Sie wollen nicht mein Gehimklempner sein?“
„Wenn sich’s irgendwie vermeiden läßt.“
„Dann werde ich’s tun!“ drohtet sie verdrossen. „Das nächste Mal werde ich mich wirklich umbringen! Dann werde ich nicht nur so tun! Sie werden schon sehen!“
Dr. Brandywine lehnte sich seufzend zurück und betrachtete dieses verwöhnte Kind. Er wußte, daß er sich auf gefährlich dünnem Eis bewegte, denn er wußte aus Erfahrung, daß sich diese Jugendlichen manchmal tatsächlich dazu hinreißen ließen, ihre zunächst gar nicht ernst gemeinten Drohungen doch noch zu verwirklichen. Aber er hatte sich dafür entschieden, das Risiko einzugehen und dieses Mädchen wieder nach Hause zu schicken. Er wollte über dieses Mädchen mit Dr. Royal sprechen, der sich besser darauf verstand, mit solchen Mädchen wie Brenda umzugehen. Trotz ihrer Jugend erinnerte Brenda ihn irgendwie an seine verstorbene Frau Madelaine. Deshalb traute er sich, der sich ansonsten recht gut mit jungen Leuten verstand, in diesem Falle kein objektives Urteil zu. Also entließ er Brenda und läutete nach Dr. Royal.
Während er auf den Kollegen wartete, rief er im Hause von Dr. Penny an und sprach mit Sandra. Sie teilte ihm mit, daß ihr Mann ein leichtes Beruhigungsmittel eingenommen hatte und im Moment schlief. Außerdem erfuhr er von ihr, daß die Polizei dagewesen war. Die Bombe war offensichtlich von einem Experten oder einem sehr erfahrenen Amateur installiert worden. Die Stimme der jungen Frau erinnerte Dr. Brandywine an ein verschrecktes, verängstigtes Kind. Er legte den Hörer wieder auf und verließ die Praxis, weil er nicht über Sandra nachdenken wollte. Diese Stimme konnte sehr leicht nur geschauspielert sein, wie er sehr wohl wußte. Oder Sandra könnte Angst haben, weil sie selbst den Killer ihres Mannes angeheuert hatte … für einen Job, der schiefgegangen war. Aber es war zu leicht, auf Krankenhaus-Klatsch zu hören. Das Personal mochte Sandra genausowenig, wie es ihren Mann liebte und bewunderte. Es ärgerte den Direktor, daß er sich dazu hinreißen ließ, in diese menschliche und doch unmenschliche Neigung zu verfallen, auf bequeme Weise nach einem Sündenbock zu suchen. Um Joel Pennys willen hoffte Brandywine, daß Sandra nichts mit dem Anschlag auf das Leben ihres Mannes zu tun hatte.
Als Brandywine in sein Büro zurückkehrte, begrüßte er seinen Psychiater-Kollegen herzlicher als sonst. Sie fanden engeren Kontakt als je zuvor, weil sie einen gemeinsamen Feind hatten … den unbekannten Attentäter. Das Band wurde noch weiter gefestigt, als Dr. Brandywine unumwunden zugab, daß er Royals Meinung über dieses Mädchen Brenda brauchte.
Miles Brandywine war in Atlanta als Sohn eines Zahnarztes geboren worden. Er war von kleinauf dazu erzogen worden, daß man sich in dieser Welt mannhaft behaupten mußte, wenn man seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte. Als sein Vater starb, hatte Miles gerade die High school abgeschlossen. Er und seine Mutter erfuhren zu ihrem Erstaunen, daß sie ein Vermögen geerbt hatten. Trotzdem war Miles entschlossen, die einmal eingeschlagene Laufbahn auch fortzusetzen. Nach zwei Jahren Militärdienst begann er sein Medizinstudium, und schon während des ersten Jahres entdeckte er sein Interesse für Psychologie. Seine Mutter hatte inzwischen das halbe ererbte Vermögen durchgebracht und wurde von den Ärzten in Atlanta für hoffnungslos geisteskrank gehalten. Ihr Tod bestärkte den jungen Miles in seiner Entschlossenheit, mehr über den menschlichen Geist zu erfahren. Nach Abschluß seines Medizinstudiums arbeitete er drei Jahre in New Yorks Bellevue-Hospital für Geisteskranke. Seinen Doktortitel erwarb er in der Schweiz. 1967 wurde ihm eine Partnerschaft bei der Colfax Clinic angeboten. Dr. Rutherford Smith war damals leitender Direktor. Er hatte die Absicht, das Krankenhaus in ein Nervensanatorium umzuwandeln.
Kurz nachdem Miles nach East St. Louis gekommen war, lernte er Madelaine Colfax, die Tochter des Klinik-Gründers, kennen.
Madelaine war attraktiv, jung und sichtlich interessiert an dem neuen Psychologen, der nun in der Klinik arbeiten wollte, die ihr Vater gegründet hatte. Als das Krankenhaus unbedingt einen neuen Gebäudeflügel brauchte, stellte Madelaine das Geld dafür gern zur Verfügung. Sie setzte sich auch dafür ein, aus dem Krankenhaus ein Nervensanatorium zu machen.
Etwa ein Jahr lang herrschten zwischen Madelaine und Miles freundschaftliche Beziehungen. Da man Madelaine ihr wirkliches Alter nicht ansehen konnte, störte es Miles nicht weiter, als er erfuhr, daß sie zehn Jahre älter war, als sie vorgab. Jedenfalls war es für ihn kein Grund, sie nicht zu heiraten.
Manchmal blickte Miles auf dieses eine Jahr, das er mit Madelaine verbracht hatte, zurück und schüttelte beinahe verwundert den Kopf. Erstens konnte er noch immer nicht so recht daran glauben, daß er so blind gewesen sein sollte. Zweitens fiel es ihm noch immer ein bißchen schwer, daran zu glauben, daß Madelaine sich überhaupt nichts aus ihm gemacht hatte.
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