„Komm, lass uns zum Marktplatz gehen. Vielleicht können wir noch einen halbwegs guten Platz ergattern.“
Widerwillig nickte Ralea und ließ es geschehen, dass Lora sie an der Hand fasste und hinter sich herzog, während sie sich durch die Menschenmasse drängelte.
Ihr Dorf war für die Versammlung ausgewählt worden, da es das größte der Menschendörfer war. Doch … doch nun waren fast alle Menschen, die nicht weiter als eine Tagesreise entfernt wohnten, hierher geströmt, um dabei sein zu können ... und solch einem Ansturm war es allem Anschein nach nicht gewachsen.
Mittlerweile hatten sie den Marktplatz erreicht. Ralea stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Leute hinweg schauen zu können, und erhaschte einen Blick auf ein behelfsmäßiges Podium, das in der Mitte des Platzes aufgebaut worden war und auf dem nun die acht Dorfobersten auf einfachen Stühlen Platz genommen hatten – je ein Repräsentant für jedes der Menschendörfer, die umgeben von dichtem Wald im Süden Romaniens lagen.
„Komm“, sagte Lora. „Wir schlagen uns weiter nach vorne durch.“
Eigentlich hatte Ralea wenig Lust dazu, am liebsten wäre sie gleich umgekehrt und nach Hause gerannt. Ihr war das alles viel zu eng, von allen Seiten wurde sie angerempelt und geschubst und selbst das Atmen fiel ihr schwer. Doch Lora hatte schon wieder ihre Hand ergriffen und Ralea seufzte resigniert, während sie hinter der Freundin herlief. Es war schon immer so gewesen, dass Lora die Forschere und Selbstbewusstere von ihnen gewesen war, während Ralea als ruhig und besonnen galt. „Gegensätze ziehen sich nun mal an“, so hatten die alten Frauen ihre innige Freundschaft stets kommentiert. Und das galt nicht nur für ihren Charakter, sondern auch für ihr Aussehen. Lora zog mit ihrem seidigen blonden Haar und ihren tiefblauen Augen seit einiger Zeit die Blicke der Dorfjungen auf sich. Ralea empfand sich selbst nicht als schön. Ihre braunen Haare waren ihr viel zu widerspenstig, ihre Lippen nicht voll genug und ihre Augen waren zwar von einem schönen Braun, doch ihre Wimpern viel zu kurz.
Einige Rempler, wüste Beschimpfungen und Fußtritte später standen die Mädchen so weit vorne, dass sie einen guten Blick auf das Holzpodium hatten. Ein paar Reihen weiter vor ihnen verlief eine niedrige Mauer aus aufeinandergeschichteten Strohballen. Dahinter standen die wackeren jungen Männer, die sich freiwillig zur Wahl gestellt hatten, mit hoch erhobenem Haupte und schauten zu dem Podium vor ihnen auf oder auf die Menschenmasse hinter ihnen. Überrascht bemerkte Ralea auch einige Frauen und ältere Männer unter ihnen. Auch Loras ältester Bruder Limon gehörte zu den mutigen Abenteurern. Lora schien ihn entdeckt zu haben und rief immer wieder seinen Namen, bis er sich umdrehte und ihnen zuwinkte. Ralea winkte lächelnd zurück. Dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick über die vielen Köpfe hinter sich schweifen, in dem vergeblichen Versuch ihre Eltern zu entdecken.
Dabei stellte sie erleichtert fest, dass die nachrückenden Menschen nicht mehr versuchten sich noch mit auf den Markt zu drängeln, sondern stattdessen anfingen, auf die Dächer der umliegenden Häuser zu klettern. Auch wenn es vielleicht albern war, hatte Ralea unterbewusst die Angst gehegt, an einer Hauswand zerquetscht zu werden.
„RUHE!“
Ralea fuhr herum. Der Dorfoberste ihres Dorfes war aufgestanden und hatte sich in die Mitte des Podiums gestellt. Neben ihm stand ein leerer Stuhl, doch machte er keine Anstalten, sich darauf zu setzen. Noch zwei weitere Male musste er brüllen, ehe wirklich Ruhe einkehrte. Es war geradezu unheimlich, so viele Menschen um sich zu wissen, die alle schwiegen und ihre Aufmerksamkeit einem einzigen Mann schenkten. Die Spannung in der Luft war zum Greifen.
„Ist das aufregend!“, flüsterte Lora.
Ralea nickte nur.
„Meine Damen und Herren!“, begann der Dorfoberste etwas unbeholfen und nestelte an seinem Hemd herum, das sich über einem stattlichen Bauch wölbte. „Ihr alle wisst, warum wir uns hier versammelt haben. Heute ist ein ganz besonderer Tag, über den noch in vielen Jahrhunderten berichtet werden wird. Seid euch eures Glücks bewusst, in solch einer bedeutsamen Zeit leben zu können und dies miterleben zu dürfen!“ Er wandte sich um und wies zum Fuß der Treppe, die zum Podium hoch führte. „Ich übergebe nun das Wort an Morgana, die Geschichtenerzählerin unseres Dorfes!“
Ralea stieß einen überraschten Laut aus und auch Lora neben ihr riss erstaunt die Augen auf, als der Dorfoberste sich zurückzog und stattdessen eine zierliche alte Frau in bunt zusammengewürfelten Kleidern und Tüchern und mit einem Gehstock in der rechten Hand mühsam die wenigen Stufen hochstieg. Sie nahm wie selbstverständlich auf dem Stuhl in der Mitte des Podiums Platz. Lora und Ralea kannten Morgana gut. Als sie noch jünger gewesen waren, hatten sie jeden Tag so lange gebettelt und gefleht, bis die alte Frau ihnen eine Geschichte erzählt hatte. Oft hatte die Ärmste zunächst geflucht, die Kinder zum Teufel gewünscht und gesagt, sie habe Besseres zu tun, doch am Ende hatte sie sich immer erweichen lassen, und wenn sie erst einmal angefangen hatte, verlor sie sich meist selbst in ihren fantasievollen Geschichten. Diese handelten von mutigen Helden und Abenteuern, sodass manchmal Stunden verstrichen, ohne dass sie oder eines der Kinder es bemerkten.
Ralea schmunzelte. Sie dachte gerne an diese Zeit zurück. Manchmal hatten bis zu zwanzig Kinder in einem Kreis um Morgana herum gesessen und ihr ehrfurchtsvoll mit großen Augen gelauscht. Inzwischen war Ralea klar, dass all diese Erzählungen erfunden waren, doch als Kinder hatten sie jedes Wort für wahr gehalten und später die schönsten Geschichten haargenau nachgespielt. Allerdings nie, ohne sich vorher um die besten Rollen zu streiten! Auch wenn Ralea es natürlich nie zugegeben hätte, sehnte sie sich manchmal in diese Zeit zurück und hätte am liebsten wieder Morganas Geschichten gelauscht, bis sie alles um sich herum vergessen hätte und in einer anderen Welt versunken wäre.
Morganas Stimme holte Ralea nun wieder zurück in die Gegenwart. Sofort spürte sie die Überraschung der Menschen rings um sich herum – niemand, der sie nicht kannte, hatte dem alten Mütterchen mit dem faltigen Gesicht und den grauen Haaren solch eine volltönende Stimme zugetraut.
„Ihr alle kennt die Geschichte, die ich euch nun erzählen werde.“
Ralea konnte sich denken, von welcher Geschichte Morgana sprach. Sie hatte sie den Kindern früher schon oft genug erzählt. Morgana machte eine Pause und sah hinab auf ihre Füße, um sich zu sammeln. Fast hätte Ralea laut aufgelacht, so vertraut war ihr diese Angewohnheit, doch sie unterdrückte den Impuls, da ihr die gespannte Stille auf einmal noch deutlicher bewusst wurde. Nicht das leiseste Räuspern oder Husten war zu hören. Alle sahen gebannt zu Morgana. Diese schaute nun auf, ließ ihren Blick kurz über die Menschen schweifen und begann zu erzählen:
„Diese Geschichte spielt lange vor unserer Zeit in einem Romanien, das mit dem heutigen Romanien, das wir kennen, nur noch wenig gemein hat. Zwar lebten Menschen und Baumlinge von jeher in den Wäldern, doch in der Gegend, die heute als Drachentod-Wüste bekannt ist, gab es saftige grüne Täler und Hügel, die sich von Horizont zu Horizont erstreckten. Dort lebten die Elfen, die sich heute mit sehr viel weniger Platz begnügen müssen, zusammen mit geheimnisvollen und sagenumwobenen Wesen: den Drachen! Diese zwei völlig unterschiedlichen Völker lebten in Harmonie mit einem gegenseitigen Respekt und Verständnis zusammen, wie es uns heute leider nahezu fremd geworden ist. Die Elfen bauten sich kleine runde Lehm- und Holzhütten und ließen den Drachen den nötigen Freiraum und Abstand. Sie feierten für ihr Leben gerne Feste mit Tanz, Musik und köstlichen Speisen. Sie galten als fröhliche Wesen, deren glockenhelles Lachen einem das Herz erwärmen konnte. Dieses Lachen war lange Zeit nicht zu hören. Bis heute ertönt es lange nicht so oft wie früher. Die Elfen mussten viel von ihrer Heiterkeit und unbeschwerten Gelassenheit einbüßen – doch dazu kommen wir noch.
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