Mette Winge
I
Nasse Perlen. Blaß glänzende nasse Perlen auf einer Zickzack-Schnur. Vom Fenster aus sah er Laternenanzünder die Straße überqueren. Dreizehn Laternen brannten schon. Die vierzehnte hing vor ihrem Haus. Jetzt flammte sie auf, und eine weitere Perle reihte sich auf die Schnur.
Es hatte den ganzen Tag von einem zinngrauen Himmel geregnet. Trübselig und monoton. Erst vor einer knappen Stunde hatte es aufgehört, und jetzt lag der Regendunst tief über der Stadt. Es konnte aber auch Seenebel vom Sund sein. Von der Bredgade war es nicht weit zum Hafen. Weiter oben auf der anderen Straßenseite lag das vornehme Prinzenpalais. Seine Mutter nannte es immer nur Ferdinands und Carolines. Jetzt stand es wohl leer.
Durch den Dunstschleier konnte man auf der anderen Straßenseite die Figuren an der katholischen Kirche erkennen. Sie schwebten still in ihren Nischen. Ein schwacher rötlicher Lichtschein fiel nach draußen, als die Tür aufging und ein Mann heraustrat. Er warf einen verdrießlichen Blick auf den Himmel, schlug den Mantelkragen hoch und verschwand in Richtung Kongens Nytorv. Ein Krankenwagen bog läutend ins Tor zum Frederiks-Spital ein, und zwei Droschken rollten in einer Geschwindigkeit am Fenster vorbei, die für Kopenhagener Verhältnisse lebhaft war. Im Vergleich zu den Pariser Droschken jedoch war es fast ein Leichenbegängnis. Aber Kopenhagen hatte auch seine Vorteile. Er konnte sich nicht vorstellen, für immer in Paris zu leben, wenngleich es gerade jetzt angenehm wäre, trockenen Fußes die großen Boulevards entlangzuschlendern, sich in ein Straßencafé zu setzen und in den Metallstuhl zurückgelehnt das Leben zu betrachten.
Er hörte sich seufzen und spürte Petersens Ungeduld und die Nervosität des Dieners wie Nadelstiche im Rücken.
Er drehte sich zu dem Diener um. Der Mann sah blaß aus, trug eine Livree und war glattrasiert, wie es sich für einen herrschaftlichen Diener gehörte. Allerdings nahm er es nicht ganz so genau, denn er hatte sich einen stattlichen Backenbart zugelegt. Er mußte an die vierzig sein.
»Nun, wo waren wir stehengeblieben? Richtig, Sie servierten dem jungen Herrn einen Grog, als er gegen zehn Uhr nach Hause kam. Wußten Sie, wo er gewesen war?«
»Nein, nur, daß er eine Gesellschaft besucht hatte. Er trug jedenfalls einen schwarzen Anzug mit schwarzer Weste. Der junge Herr wirkte...« Der Diener verstummte.
»Wie wirkte er?«
»Der junge Herr wirkte...« Er senkte seine Stimme. Dann nahm er sich zusammen. »Er wirkte echauffiert .«
»Wie? So sprechen Sie doch, Mann.«
»Erregt, erschüttert, außer sich.«
»Was hat er getan, was hat er gesagt?
»Er reichte mir Mantel, Hut und Handschuhe und griff sich an den Kopf, als hätte er starke Kopfschmerzen. Er ging direkt ins Herrenzimmer, wo Licht war. Im Herrenzimmer brennt immer Licht – und es ist geheizt, auch wenn die Herrschaften außer Hause sind. Als er eintrat, bat er mich um einen guten, starken Grog. Ich ging sofort in die Küche, um ihn zuzubereiten. Aber das habe ich bereits berichtet.«
»Wie lange haben Sie für den Grog gebraucht?«
»Tja, das weiß ich nicht mehr so genau. Ungefähr eine Viertelstunde. Ich mußte erst das Feuer im Herd anfachen. Die Köchin hatte frei.«
»Wo stand oder saß Herr Bramsnæs, als Sie zurückkamen?«
»Der junge Herr saß mit zurückgelehntem Kopf in dem großen Sessel. Er hatte die Augen geschlossen.«
»Schlief er?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich meine mich zu erinnern, daß er mit den Fingern auf der Armlehne trommelte. Aber ich kann mich auch irren. Er öffnete die Augen, als ich eintrat.«
»Was machten Sie dann?«
»Ich servierte den Grog und fragte, ob der Herr noch etwas wünsche.«
»Und er antwortete...«
»Nein, das ist alles. Legen Sie sich nur schlafen, Lodwig! Ja, so nannte er mich. Ich bin ja seit vielen Jahren schon in diesem Hause. Als der junge Herr noch klein war, hat er mich Lodwig getauft,«
»Sie heißen Hans Peter Ludwigsen?«
»Jawohl.«
»Sie gingen dann zu Bett. Wo schlafen Sie?«
»Im fünften Stock, wo die Bediensteten untergebracht sind.«
»Sie hörten nichts?«
»Selbstverständlich nicht. Im fünften Stock kann man keine Geräusche aus der Wohnung hören. Ich legte mich zur Ruhe. Am nächsten Morgen begann ich mit meinen üblichen Pflichten. Lampen und dergleichen. Um Viertel nach acht klopfte ich bei dem jungen Herrn an, um ihm das warme Wasser zu bringen. Als ich sein Zimmer betrat, da entdeckte ich, daß er nicht im Bett gewesen war. Ich wunderte mich, denn ich hatte nicht den Eindruck gehabt, daß er noch einmal ausgehen wollte. Nachdem ich ins Wohnzimmer geschaut hatte, ging ich ins Herrenzimmer und fand dann... Ja, Sie wissen.«
»Der junge Herr Bramsnæs war tot?«
»Außerordentlich tot. Sie haben ihn selbst gesehen.«
Ja, er hatte ihn gesehen. Und er war ausgesprochen tot gewesen. Die rechte Gehirnhälfte fehlte. Sie klebte überall ringsum an Vorhängen und Quasten.
»Wissen Sie, wo der Herr des Hauses sich aufhält?«
»Er ist auf Lolland zur Jagd. Wir sind ja mitten in der Jagdsaison. Ich habe den Herrn telegraphisch in Kenntnis gesetzt, er ist auf dem Wege.«
»Und Herrn Bramsnæs’ Mutter? Wo befindet sie sich?«
»Die gnädige Frau hält sich auf dem Gut auf und ist noch nicht über das tragische Ereignis im Bilde. Ihr das mitzuteilen steht meiner Auffassung nach dem gnädigen Herrn zu.«
»Sagen Sie, wo liegt das Gut, wie Sie es nennen?«
»Lykkeseje liegt anderthalb Meilen südlich von Ringsted. Es gehörte zur Mitgift der gnädigen Frau. Wie Sie wissen, ist die gnädige Frau eine geborene Baronesse von Gyldensteen. Ein reiches und angesehenes Haus.«
»Und Frau Bramsnæs hält sich oft dort auf?«
»Ja, die gnädige Frau wohnt dort viel lieber als hier in der Hauptstadt. Die gnädige Frau kommt nur in die Stadt, wenn Gesellschaften eines gewissen Niveaus stattfinden, und natürlich, um für ihre Garderobe zu sorgen. Die Schneiderin der gnädigen Frau wohnt begreiflicherweise hier in der Stadt. Ja, auch die Hutmacherin. Früher kam die gnädige Frau auch zu wichtigen Theaterpremieren, aber das tut sie nicht mehr.«
»Hält sich der Fabrikant auch häufig auf dem Land auf?«
»Nein, der gnädige Herr zieht das Kopenhagener Leben vor. Er veranstaltet jedes Jahr ein paar größere Jagden auf dem Gut, und dann ist er dort, aber sonst bleibt er in der Stadt. Er ist sehr von seinen Geschäften in Anspruch genommen.«
»Gibt es noch weitere Kinder in der Familie Bramsnæs?«
»Ja, der junge Herr hat eine ältere Schwester, die mit dem Kammerherrn Oxholmer verheiratet ist. Sie leben auf ihrem Gut – einem kleineren Gut allerdings in der Gegend von Præstø. Sie haben zwei Kinder.«
»Kommt die Kammerherrin oft in die Stadt?«
»Hin und wieder. Die Herrschaft wohnt hier, wenn der Kammerherr seinen Pflichten bei Hofe nachkommen muß. Die Herrschaft war in der letzten Woche hier.«
»Wie lange, sagten Sie, sind Sie schon bei der Familie Bramsnæs?«
»Wie gesagt, seit der junge Herr ein kleiner Junge war. Er war drei Jahre alt, als ich in die Dienste der Familie trat, und da er 24 Jahre alt wurde, müssen es folglich 21 Jahre sein.«
Der Diener sah plötzlich aschgrau aus. Krogh spürte, daß seine hochmütige Fassade abbröckelte. Er beschloß, ihn in Ruhe zu lassen.
»Also: Sie sahen den jungen Herrn zuletzt, als Sie ihm gestern abend, das war Mittwoch, gegen zehn den Grog servierten. Danach haben Sie nichts gesehen oder gehört?«
Der Diener schüttelte den Kopf, und Krogh bemerkte, daß Schweißtropfen von seinem Backenbart perlten.
Krogh saß an dem Schreibtisch des pompös ausgestatteten Herrenzimmers. Hier hatte der junge Bramsnæs gesessen. Das Grogglas hatte einen Rand auf der polierten Fläche hinterlassen. Auf dem Tisch vor ihm lagen einige Papiere und Jetons. Die Spielmarken waren säuberlich sortiert gewesen, aber die Stapel waren eingestürzt. Die Papiere waren voller Berechnungen. Die Zahlen waren addiert und subtrahiert, ausgestrichen und neu geschrieben worden. Krogh sah sie sich sorgfältig an. War es eine Aufstellung von Spielschulden, oder waren es Spekulationsberechnungen? Es lag auch ein Brief dabei. Nach der Handschrift zu urteilen, mußte er von einer Dame geschrieben worden sein. Er war ganz kurz. Die Dame bat den jungen Bramsnæs, ihn am Freitag um acht im Restaurant Royal zu treffen. »Es ist nicht unwichtig, daß Sie kommen.« Die Unterschrift war ein großes, energisches E. Heute war Freitag.
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