Als Urs über den weiten Klosterplatz lief, hörte er aus einer Ecke an der Mauer gedämpftes Saitenspiel. Er horchte und ging mit ein paar Schritten dem Klang nach.
Hinter einem Busch saß, gegen die Steine gelehnt, ein Scholar, die Laute im Arm. Neben ihm stand eine zweiter und summte leise die angeschlagene Melodie mit.
„Ach, Musikanten gibt’s hier auch“, rief Urs und kam heran, „nicht bloß solche spitznasigen Duckmäuser, wie mir da vorhin einer begegnet ist.“
„Hat er eine feine Krause um den Hals getragen, Grünhut?“ fragte der größere der beiden.
„Ja, das hat er“, lachte Urs.
„Dann war’s der Seidensticker.“
„Seidensticker!“ echote Urs belustigt. „Und wer seid ihr?“
Die beiden stellten sich als Siglin und Baldauf vor; auch Urs nannte seinen Namen und fragte, was denn der Koch für ein Mann sei, ob er viele Hiebe austeile und man streng bei ihm arbeiten müsse. Die Freunde beruhigten ihn, Balthes sei gutmütig und schaue nicht allzu genau hin, wenn einer nur den rechten Willen zeige.
Auf dem Turm läutete ein Glöckchen.
„Wir müssen in die Lektion!“
Siglin und Baldauf machten sich eilig davon. Plötzlich kehrte Jörg um.
„Meine Laute darf ich nicht mitnehmen und zum Wegräumen ist keine Zeit mehr. Kannst du sie mir in deiner Kammer aufheben?“ Damit drückte er Urs das schöne Instrument in die Hand.
Der Junge schaute ihn überrascht an. „Ich geb schon acht darauf“, versicherte er ernsthaft und winkte den beiden nach.
Unschlüssig betrachtete er das gewölbte, glänzende Holz und strich vorsichtig über die straffgespannten Saiten. Wohin damit? dachte er, ich hab ja noch nicht einmal eine Kammer hier. Da werd ich gleich die Margret suchen müssen.
Nicht lange danach stieg Urs hinter Margret im Gesindehaus die Speichertreppe hinauf. Ihr grauer Zopf pendelte auf ihrem hageren Rücken hin und her, in der Hand trug sie einen Schlüsselbund.
„So, so“, brabbelte sie vor sich hin, „mein Alter will dich also in der Küche behalten!“
Sie drehte sich halb nach dem Jungen um und erklärte, der Koch sei ihr Mann, aber sie habe auch ein Wörtchen beim Gesinde mitzureden. Schnaufend hielt sie auf dem letzten Absatz inne. „So, da wären wir!“ Dann schlurfte sie über die knarrenden Dielen einen halbdunklen Flur entlang. „Stoß deinen Kopf nicht an die Balken, Bub“, mahnte sie.
Urs schlich ihr mit etwas bänglichem Gefühl nach.
Vor einer Lattentür blieb Margret stehen und fuchtelte ungeschickt am Schlüsselloch herum.
„Gar nichts sieht man hier oben!“ murrte sie ungeduldig.
„Ah, endlich!“ Mit einem erleichterten Stöhnen öffnete sie.
Ein enges, niedriges Gelaß, von einer winzigen Dachluke erhellt, lag vor ihnen. Urs schnüffelte unmutig in die staubtrockene Luft.
Die Frau deutete auf zwei Schragen. „Da liegen der Märte und der Jost, und das da drüben wird deine Bettstatt.“
Urs schwieg. „Schlafen da immer ein paar zusammen?“ fragte er endlich zögernd.
„Was!“ fuhr ihn die Alte an. „Da will wohl einer das Herrensöhnchen spielen! Der Roßbub und die Küchenjungen teilen immer die Kammer. Wenn’s sogar die Herren Schüler zu zehn und zwölfen im Dorment aushalten, wird’s dem Urs Bonus hier oben auch gut genug sein!“
Urs legte wortlos das Bündel und die Laute auf seinen Strohsack und trabte mit hängendem Kopf hinter Margret zurück.
Eine Stunde vor Mitternacht schreckte der Roßbub Märte aus dem Schlaf.
„Jost, Jost, wach auf, da schleicht einer in der Kammer herum!“ schrie er aus vollem Hals.
Der andere setzte sich hoch.
„Wo denn?“ murmelte er verstört.
„Da – jetzt tappt er mir ins Gesicht!“ kreischte Märte entsetzt.
„Und jetzt mir!“ heulte Jost dagegen.
„Schlag Licht, Kerl“, brüllte Märte, „der will uns ans Leben!“
„Faß ihn doch, du Dummkopf!“
Jost sprang polternd aus dem Bett und griff nach der Kerze.
Über die Dielen schleifte ein Schritt, raschelnd streifte etwas an Märtes Strohsack entlang. Ein Schatten strich dem Fenster zu. Märte starrte gebannt auf die Lade, vor der sich im schwachen Mondschimmer eine tastende Hand abhob.
„Der will aufs Dach hinaus“, flüsterte er schaudernd.
„Alle guten Geister loben Gott den Herrn! – Mach doch endlich hell!“
Schließlich flammte Josts Kerze auf. Im flackernden Schein der kleinen Flamme sahen die beiden Knechte, wie eine schmale Gestalt sich mit langsamen Bewegungen am Fensterrand hinaufzog.
„Der Neue! Der Neue!“ riefen die beiden erschrocken.
Jost machte ein paar Schritte auf den Schwebenden zu und streckte die Hand nach ihm aus.
„Rühr ihn nicht an!“ keuchte Märte voller Angst. „Vielleicht hat der eine böse Sucht, bleib weg, sonst packt’s dich auch!“
Jost fuhr entsetzt zurück. Urs taumelte schwergliedrig wieder zu Boden und glitt mit geschlossenen Augen an der Wand entlang. Endlich blieb er stehen und ließ den Kopf sinken.
„Hol den Koch, Jost, der muß ihn einfangen, ich wart vor der Tür auf euch!“
Jost nahm die Kerze und lief hinaus. Märte drängte nach.
Zitternd drehte er von draußen den Schlüssel um. Drinnen blieb es ganz still.
Erschöpft lehnte sich Märte an einen Dachbalken im Flur.
Nach geraumer Zeit hörte er Stimmen und tappende Schritte heraufkommen. Balthes erschien, über dem mächtigen Haupt eine baumelnde Schlafmütze, hinter ihm Margret im Nachtkittel und Jost mit zerzaustem Haar.
„Ich begreifs nicht, ich begreif’s nicht!“ murmelte Balthes, während er aufschloß.
Seine Frau zog ihn am Ärmel zurück.
„Du mußt zuerst einen Spruch tun, wer weiß, ob der Bub nicht verhext ist oder den Teufel im Leib hat“, wisperte sie.
„Laß mich in Ruh, Alte“, wehrte Balthes ab und schob sie weg.
„Ich will erst wissen, was los ist.“
In der Kammer saß Urs wie gelähmt auf seinem Bett und hielt noch immer die Lider geschlossen. Balthes legte ihm mutig die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn kräftig.
„He du! Komm zu dir, Urs Bonus!“
Der Angerufene fuhr mit einem Ruck zusammen und riß die Augen auf.
„Was soll ich?“ stammelte er.
„Bist du krank, Bursche?“ fragte Balthes beschwörend.
Die andern hörten reglos zu.
Wie im Traum drehte Urs den Kopf und streifte sich die Haare aus der Stirn.
„Meister Koch? Und die Frau Margret? Und der Jost und der Märte?“
„Der war gar nicht im Bett, der ist ja noch in den Kleidern“, mischte sich Margret ein. „Wo hat er sich denn so lang herumgetrieben?“
„Das kann ich dir sagen: Noch vor einer halben Stunde hat er in der Küche die Töpfe gefegt“, erklärte der Koch.
„So einen Fleißigen hab ich noch nie gehabt!“
„Weißt du, was ihn dazu getrieben hat?“ flüsterte Margret anzüglich. Unschlüssig wandte sich Balthes wieder dem Jungen zu.
Da richtete sich Urs auf.
„Verzeihet es mir nur, Meister, und Ihr, Frau Margret, und auch ihr beiden“, sagte er jetzt deutlich. „Scheints hab ich, Gott sei’s geklagt, wieder meinen Anfall gehabt.
Da muß ich dann in den Stuben umgehen und manchmal sogar aufs Dach hinaussteigen.“
„Also kommt das immer wieder über dich?“ forschte Balthes besorgt.
„Ja, immer wieder“, sagte Urs trostlos mit seltsam vibrierender Stimme.
Jost und Märte flüsterten miteinander.
„Mit dem bleib ich nicht in der Kammer“, erklärte Jost laut, „nicht einmal die paar Nächte, bis mein Dienst abgelaufen ist, und der Märte sagt, er tät es genauso wenig.“
„Mein Bruder hat’s auch nicht bei mir ausgehalten“, erzählte Urs betrübt, „und mein Vater hat mir eine eigene Kammer angewiesen und das Fenster vergittern lassen.“
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