1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 „Welcome. I’m Alem, and I will drive you to the camp. Was it a nice trip?“
Sein Händedruck war fest. Die Hand war sehnig und trocken in ihrer feuchten. Es war also nicht er , der sie abholte. Es war schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen, aber die Ärzte hatten sicher viel zu tun. Sie setzte die Sonnenbrille auf, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und sah ein, dass der braune Kaffeefleck auf der weißen Hose nicht der einzige Fleck sein würde, wenn sie ankam.
„ Yes, it was okay. How long does it take? , fragte sie.
Alem teilte mit, dass sie circa eine Dreiviertelstunde nach Norden fahren würden und wenn es unterwegs keine Hindernisse gäbe, am Spätnachmittag im Lager sein würden.
„ Are you a doctor – or nurse? “, erkundigte er sich, und als sie lächelnd den Kopf schüttelte, wollte er wissen, was sie dann im Lager machen würde. Den eigentlichen Grund konnte sie ihm nicht erzählen. Sie hielt sich an die offizielle und teils wahre Version, dass ihr ein Job als Administratorin im Flüchtlingslager angeboten worden sei, sie aber noch nicht genau wusste, was sie machen sollte, abgesehen davon, dass es etwas mit Buchhaltung und Personal zu tun hatte, wofür sie ausgebildet war.
„ But the camp will shut down soon, you know? “, sagte Alem und schaute schnell zu ihr mit gelblichen Augen. Die Sonne hatte im Laufe der Zeit seinem Gesicht zugesetzt. Und das Leben sicher auch.
Sie nickte. Wusste, dass das Lager bald schließen würde und informierte ihn darüber, dass sie genau dabei mithelfen sollte. Es gab keinen Bedarf mehr für die Anwesenheit von Ärzte ohne Grenzen. Die Situation in der Gegend war unter Kontrolle und andere Gebiete brauchten die Hilfe dringender. Das passte ihr sehr gut. Tatsächlich hatte sie genau diese Tatsache als ein Zeichen gesehen. Ein Zeichen dafür, dass sie das tun musste, wofür sie schon lange Pläne gehegt hatte. Man könnte es auch Schicksal nennen. Irgendwie tat es auch gut, seiner Mutter und ihren Warnungen zu trotzen. Eine Strafe. Für die lebenslange Lüge, mit der sie aufgewachsen war. Er will dich ja nicht kennen, hatte ihre Mutter gesagt. Aber Silje meinte, wenn sie vor ihrem Vater stünde, würde er es nicht ablehnen können, seine Tochter zu empfangen. Das war ihre Überzeugung. Sie betrachtete die Landschaft und die Sonne, die in roten und orangefarbenen Nuancen durch die Wolkendecke schien. Sie war hier, um ihn zu finden. Dann musste die Zeit zeigen, was daraus wurde.
Alem war ein Mann weniger Worte. Nachdem er ihr erzählt hatte, dass er Fahrer, eine Art Mädchen für alles im Lager und in einem kleinen Dorf in Äthiopien aufgewachsen war, sagte er nicht mehr besonders viel. Er konzentrierte sich auf die Fahrt, was auch notwendig war. Sie klammerte sich an den Sicherheitsgurt, wenn das Auto in hohem Tempo heftige Kurven fuhr, um den größten Schlaglöchern im Weg auszuweichen. Die Sonne brannte unbarmherzig. Hier hatte es lange nicht geregnet. Die große Regenzeit sollte bald kommen, aber der Himmel zeigte noch keinerlei Anzeichen dafür. Das Einzige, was sie zu allen Seiten sehen konnte, waren rote Erde und vereinzelte Bäume, verkrüppelt in dem eisenhaltigen, trockenen Untergrund. Bläuliche Berge unterbrachen das flache Terrain am Horizont. Am Straßenrand liefen Afrikaner in staubigen Gewändern und trieben Ziegen, magere Kühe und Esel vor sich her. Es waren auch ein paar Kinder dabei, die nackten Beine voller Dreck. Die Babys waren mit einem Tuch bei ihren Müttern auf den Rücken gebunden und sahen ziemlich eingezwängt aus. Die meisten Frauen trugen lange, farbenfrohe Kleider. Einige winkten Alem zu, der lächelnd zurückwinkte. Eine Kinderschar lief hinter dem Auto her. Sie kannten sicher alle das rote Logo von Ärzte ohne Grenzen. Silje drehte sich um und sah durch die Heckscheibe die Kinder, die riefen und lachten und rannten, so schnell sie konnten, selbst die Kleinsten.
„ Great kids “, sagte Alem und lächelte ein bisschen wehmütig.
Sie bogen plötzlich ein, vor ein gelbverputztes Gebäude mit blau bemalten Sparren und schwedenroten Balken, die ein Halbdach trugen, unter das vor einer langen Reihe Gitterfenster eine Wäscheleine gezogen war. Einige Jacken und Handtücher hingen zum Trocknen in der Sonne. Sie riss die Augen auf, als Alem neben einer Karre mit einem Esel davor parkte. Ein älterer, sehniger Einheimischer mit weißen, krausen Haaren half einer Frau, einige blaue Behälter von dem Karren herunterzuheben. Die Arbeit wurde genau verfolgt von einem kleinen, mageren Jungen, der sich dicht an den Alten hielt. Die Frau sah auf und schirmte die Augen vor der Sonne ab, dann lächelte sie, stellte einen Behälter auf die rote Erde und kam ihr entgegen.
„Du musst die neue Mitarbeiterin sein“, sagte sie.
Silje schob die Sonnenbrille in die Haare. „Ja, ich heiße Silje. Silje Vuong“, antwortete sie, erleichtert darüber, dass es noch andere Dänen im Lager gab. Außer ihm, natürlich. Es war lange her, dass sie Englisch gesprochen hatte.
„Ich habe erwartet, eine Asiatin zu sehen … bei dem Namen“, lächelte die Frau. „Samanta Lund. Ich bin Krankenschwester. Ich will dir gerade lieber nicht die Hand geben …“ Sie zeigte beide Hände vor, die von der staubigen Erde rot waren.
Sie wirkte gar nicht wie eine Dänin mit den dunklen Haaren und den lächelnden, braunen Augen, aber Silje meinte, einen seeländischen Akzent zu hören.
„Mein Mann ist Vietnamese“, erklärte sie. „Was macht ihr da?“, fragte sie und lächelte dem Jungen zu, der sie mit großen, dunklen Augen anstarrte.
„In den Behältern ist Wasser. Wir haben leider kein fließend Wasser und bekommen es mehrmals am Tag geliefert“, erläuterte Samanta. „Ja, es gibt vieles, an das du dich hier gewöhnen musst“, fügte sie mit einem Ton hinzu, der nach bitterer Erfahrung klang.
Der Junge folgte dem alten Mann, der einen Behälter in ein Gebäude dem Haus gegenüber schleppte.
„Das ist Faheem“, sagte Samanta, die ihrem Blick gefolgt war. „Sie kommen beide aus einem der Dörfer in der Nähe.“
„Wie alt ist er?“
Samanta zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Sie nahm einen Lappen von der Wäscheleine und trocknete die Hände ab.
„So, jetzt kann ich dich anständig begrüßen“, meinte sie, und gab ihr die Hand. Sie sah wieder zu dem Jungen. „Ich schätze, er ist ungefähr sieben, vielleicht acht. Aber das weiß er nicht mal selbst. Beide Eltern sind tot, er hat nur seinen Opa.“
Der Junge schaute die ganze Zeit zu Silje. Er war so mager, dass die Kniescheiben viel zu groß für die kleinen, dünnen Beine aussahen. Plötzlich lief er zu Samanta hin und flüsterte ihr etwas zu. Sie beugte sich vor, um es zu hören, lächelte und sagte etwas zu ihm in einer fremden Sprache, von der Silje dachte, es müsste Amharisch sein. Die Worte ließen den Jungen verlegen lächeln, dann lief er zu dem Esel und dem Karren, wo der alte Mann zahnlos grinste.
„Was hat er gesagt?“, fragte Silje neugierig.
Samanta steckte die Hände in die Taschen ihrer Shorts.
„Nichts Wichtiges. Komm, ich zeig’ dir das Lager.“
„Wo sind die ganzen Flüchtlinge?“
„Das Flüchtlingslager ist ein Stückchen weg von hier, aber das wird jetzt sukzessive geräumt.“
Silje folgte Samanta und sammelte die Eindrücke, Gerüche und Geräusche. Wie wohl die Nachtgeräusche klangen? Das hier würde eine Weile ihr neues Zuhause sein, es war alles so unwirklich und so weit von der von einem Architekten entworfenen Villa in Skåde und dem schönen, grünen Garten weg. Sie vermisste das. Und Anya. Und Tao. Er hatte sie widerwillig bei diesem Projekt unterstützt. Er wusste nicht, dass sie hier war, um nach ihrem Spendervater zu suchen. Er glaubte, sie sei ihrer Arbeit wegen gereist. Sie hasste es, ihn zu belügen, aber sonst hätte er es ihr nie erlaubt.
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