Waruna Tschittanga war vierzehn Jahre alt, als er von dem Standbild Brahmas, des Weltenschöpfers, lautstark verkündete, daß er von allen Bewohnern des Dorfes so sehnlich erwartete Monsun großes Unheil bringen würde.
Niemand schenkte ihm Glauben. Auch nicht, als er sich den Kopf kahlgeschoren und zum Zeichen der Buße mit Asche bestreute und sieben Tage lang ohne Nahrung im Tempel verweilte, die Götter anrief und nur Wasser aus dem Fluß zu sich nahm, das ihm Sumangalã, seine Schwester, brachte.
Sie war ein betörendes Geschöpf. Das lange, schwarze Haar fiel ihr bis zu den Hüften, und wenn sie es offen trug, umwehte es sie wie ein hauchdünner Schleier.
Am achten Tag brach der Sturm mit einem verheerenden Gewitter los, das fast den ganzen Tag über anhielt. Der Regen ließ den Fluß heftig anschwellen und verwandelte die Terrassen in einen schlammigen Sumpf, den das Wasser mehr als kniehoch bedeckte. Dem Vieh auf den am tiefsten gelegenen Wiesen war der Rückweg versperrt. Die Männer, die versuchten, die Kühe mit Booten zu retten, wurden von der steigenden Flut mitgerissen und kenterten an den etwas weiter flußabwärts liegenden Stromschnellen.
Blitze schlugen dröhnend in Baumriesen ein und verwandelten sie in lodernde Fackeln oder ließen sie in den Fluß stürzen, wo sich bald ein ineinander verflochtenes Bollwerk aus Stämmen, Ästen und Schlamm bildete, das die Wasser anstaute. Innerhalb weniger Stunden wurden die untersten der sorgfältig gepflegten Terrassen unterspült. Große Flächen brachen ab und verschwanden in den aufschäumenden Fluten.
Während der Nacht deckte der Sturm Hütten und Häuser ab. Lediglich der jahrhundertealte Tempel blieb von den Naturgewalten verschont.
Als am nächsten Tag das Ausmaß des Unwetters in vollem Umfang sichtbar wurde, war die Saat auf den Feldern vernichtet, das halbe Dorf, das wie die Terrassen auf verschiedenen Ebenen angelegt war, zerstört, und überall lagen die Kadaver ertrunkener Tiere herum, die in der erneut einsetzenden Hitze rasch zu verwesen begannen.
Für Trauer blieb wenig Zeit. Die Aufräumarbeiten hatten Vorrang. Die Dorfbewohner mußten wenigstens versuchen, die nächste Ernte zu retten. Entwässerungsgräben wurden gezogen, weggeschwemmtes fruchtbares Land mühsam zurückgeschleppt und vom Abrutschen gefährdete Stellen neu befestigt.
Waruna Tschittanga konnte sich an den Arbeiten nicht beteiligen. Ein in allernächster Nähe einschlagender Blitz hatte ihn geblendet und nahezu seines Augenlichts beraubt. Selbst seine Schwester erkannte er nur noch, wenn sie dicht vor ihm stand.
Waruna betete im Tempel: zu Brahma, dem Schöpfer der Welt, zu Wischnu, der von gütigem und wohlwollendem Charakter war, zu Sarasvati, der Wasser- und Flußgöttin, und zu Schiwa, in dessen Wesen sich sowohl furchterregende und vernichtungsbringende Macht als auch lebensspendende und wohlwollende Kraft miteinander verbanden.
Daß er das Unwetter vorhergesehen hatte, erfüllte ihn mit Furcht. Besaß er Kräfte, von denen er selbst nichts geahnt hatte? Nicht einmal Sumangalãs Nähe war ihm bei all den quälenden Gedanken Trost oder Zuversicht.
Von den Eltern war sie einem Mann versprochen worden, den sie zum Ende der Monsunzeit hatte heiraten sollen, doch Jayaseelam war in den Fluten ertrunken und sein Leichnam vom Fluß davongetragen worden. Sumangalã verlieh ihrem Kummer Ausdruck, indem sie fortan nicht mehr von der Seite ihres erblindeten Bruders wich und ihn pflegte und verköstigte.
Wenn Waruna nicht in tagelanges, bedrückendes Schweigen verfiel, redete er wirres Zeug. Khande Rao, der sich als einer der wenigen Dörfler gelegentlich nach seinem Befinden erkundigte, behauptete mit Nachdruck, daß es sich dabei um Erinnerungen aus einem früheren Leben handeln müsse. Er verschwieg jedoch beharrlich, woher er sein Wissen bezog.
Im Dorf wurde das Leben noch karger und beschwerlicher, als es ohnehin schon gewesen war. Die Vorräte waren aufgebraucht, und die Menschen litten Hunger, weil weder der Fluß genügend Fische noch der nahe Wald ausreichend Wild oder Beeren hergaben. Die Brahmanen und Vaishyas im Dorf, also die oberen Kasten, hatten genug zu essen, alle anderen darbten und mußten ihr beschwerliches Schicksal widerspruchslos ertragen. Nur Waruna Tschittanga zeigte sich von alldem wenig beeindruckt, er sprach sogar davon, daß die Prüfungen, die das Dorf zu erdulden hätte, noch schlimmer werden würden.
Diesmal sah es so aus, als hätte Waruna mit seiner orakelhaften Vorhersage unrecht. Tagelang sprach er nur von Gefahren, aber dann erschien eine Karawane arabischer und indischer Händler, die auf dem langen Weg von Madras nach Bangalore ein Stück flußaufwärts zogen.
Die Händler führten Dörrfleisch, Brotfladen und andere Nahrungsmittel im Überfluß mit sich. Aber sie waren keine Hindus, sondern gehörten dem moslemischen Glauben an, und sie gebärdeten sich wie Missionare der übelsten Sorte. Vorräte erhielt nur derjenige, der seinen Göttern abschwor und die Lehren des Korans annahm.
Fast alle hungernden Angehörigen der niedrigen Kasten traten zum Islam über. Sonderlich aufregend war ein solches Verhalten nicht, schließlich gingen nach hinduistischer Überzeugung aus dem Brahman, dem Urprinzip allen Seins, nicht nur die indischen Götter hervor, sondern ebenso der Gott der Juden, Christen und Moslems sowie die Begründer fremder Religionen wie Buddha und Mohammed.
Intoleranz und Fanatismus galten bei Hindus nicht anderen, ihnen fremden Glaubenslehren, sondern lediglich anderen Philosophen, die gleiches Recht für alle verkündeten. Da die zum Islam übergelaufenen Männer und Frauen letztlich auf die gottgewollte Gleichheit aller Menschen hinzuweisen begannen, um damit ihren künftigen Anspruch auf eine gleichmäßige Versorgung zu untermauern, fühlten sich die Hindus der oberen Kasten provoziert.
Nachdem die Händler weitergezogen waren, gab es blutige Auseinandersetzungen, in deren Verlauf mehrere Männer getötet wurden und vier Shudra-Familien in den Dschungel flohen. Danach herrschte für einige Tage Ruhe.
Niemand achtete auf Warunas Warnungen, der nicht müde wurde, von Blut und Schrecken zu sprechen.
Achtunddreißig Einwohner zählte das Dorf noch, darunter die Familien Tschittanga und Rao, die als einzige Shudras weiterhin im hinduistischen Glauben verwurzelt blieben. Auch wenn sie jetzt die doppelte Arbeit leisten mußten, trugen sie es mit Geduld.
Eines Mittags kehrte Warunas Vater blutüberströmt von den unteren Terrassenfeldern zurück, die an den Dschungel grenzten. Er war übel zugerichtet, sein Körper eine einzige klaffende Wunde, und es erschien wie ein Wunder, daß er überhaupt die Kraft gehabt hatte, sich zurückzuschleppen. Er starb jedoch, ehe er berichten konnte, was geschehen war.
Fünf mit Dolchen, schartigen Schwertern und zugespitzten Stangen bewaffnete Männer brachen auf. Lediglich einer von ihnen überlebte. Er sprach von einem riesigen Tiger, der über sie hergefallen sei und schrecklich gewütet habe. Er selbst hatte sein Leben nur der Tatsache zu verdanken, daß er auf einer der höheren Terrassen Ausschau gehalten hatte. Von den anderen, auch den Shudras auf den Feldern, lebte keiner mehr.
Weder für Waruna Tschittanga noch für seine Schwester Sumangalã oder für Khande Rao, dessen Vater zu den Bewaffneten gehört hatte, blieb viel Zeit zum Trauern. Der Tiger riß noch am selben Abend sein nächstes Opfer und schleppte es davon, ehe die völlig überraschten Dörfler eingreifen konnten. Nie zuvor hatte sich eine Raubkatze so nahe herangewagt.
Für Waruna war es nun an der Zeit, sein Leben ganz den Göttern zu weihen.
„Nur auf diese Weise kann ich meine inneren Schmerzen überwinden“, sagte er zu seiner Schwester, die ihm tapfer half, jedes Haar an seinem Körper abzurasieren, ihn mit Lehm einzureiben und mit weißer Asche zu bestreuen. Der junge Mann trug nur ein Hüfttuch um die Lenden geschlungen, mehr wollte er künftig nicht sein eigen nennen.
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