Sie hörte, dass Nicolaj gekommen war, und beeilte sich, aus der Toilette zu kommen, rannte ihn beinahe um, da er auf dem Weg hinein war, um Wasser für die Kaffeemaschine zu holen.
»Mann, hast du mich erschreckt! Du bist schon hier?«, japste er und griff sich demonstrativ ans Herz.
»Anscheinend, und jetzt krieg bitte keinen Herzinfarkt, ja.«
Sie hörte, dass er den Wasserhahn anmachte und ihr wurde schlecht, wie immer, wenn sie sich vorstellte, Wasser aus diesem ekligen Wasserhahn trinken zu müssen.
»Nein, davon gibt’s in letzter Zeit echt genug«, rief er, um das Rauschen des Wassers zu übertönen.
»Was meinst du damit? Denkst du an den Grabschänder?«, fragte sie und schaltete den Computer an. Er fuhr mit einer gewaltigen Beschleunigung der Lüftung hoch. Einige Computer waren in der Sommerhitze ausgefallen.
»Unter anderem … und an das Vergewaltigungsopfer.«
Nicolaj kam aus der Toilette und goss Wasser in den Behälter der Kaffeemaschine. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass er es immerhin nicht aus der Kloschüssel geholt hatte.
»Was meinst du?«
Nicolaj warf Kaffeebohnen in die Mühle, die einen Augenblick lang alle anderen Geräusche übertönte. So mochte er seinen Kaffee am liebsten – frischgemahlen – danach gab er ein paar Löffel voll in den Filter. Bald ließ der Duft sie den verkalkten und rostigen Wasserhahn vergessen.
»Sie ist letzte Nacht gestorben. Auch an einem Herzstillstand.«
Annes Inneres gefror zu Eis, ohne dass ihr jedoch dadurch weniger heiß war.
»Was sagst du? Woher weißt du das?«
»So wie es aussieht warst du wohl noch nicht auf Nachrichten-Online.«
»Nein, ich bin gerade erst gekommen. Aber da steht ja wohl auch nicht, woher du das weißt, oder?«
Er blinzelte ihr bloß frech zu.
»Okay, dein Kontakt«, sagte sie dann wie selbstverständlich und hatte auf ihrem Bildschirm die Datenbank aufgerufen, mit der sie die Homepage aktualisierten. »Du hast um halb fünf aktualisiert, wie ich sehe. Kriegst du so früh am Morgen Bescheid?« Sie hörte selbst, dass in ihrer Stimme ein Hauch von Neid lag. Es war ihr nicht gelungen, einen neuen Informanten zu finden, nachdem ihrer auf unbestimmte Zeit im Gefängnis gelandet war.
Nicolaj schenkte Kaffee in zwei Becher und stellte einen vor Anne auf den Schreibtisch.
»Ich habe es nicht von der Person erfahren, von der du es glaubst«, neckte er sie weiter.
»War es dann jemand aus dem Krankenhaus? Es muss doch einer sein, der …«
»Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf, Anne. Ich habe meine Kontakte, du deine.«
»Ach, und wen habe ich wohl?«, entgegnete sie sauer und nippte an dem heißen Kaffee, obwohl sie lieber etwas Kaltes zu Trinken gehabt hätte.
»Benito! Rolando Benito!« Er sprach den Namen übertrieben italienisch aus mit extra gerolltem r und einem t wie ein sehr weiches d.
Sie konnte nicht anders als zu lächeln. Er ist echt keine große Hilfe, dachte sie. Aber das Eis im Magen war trotz des heißen Kaffees nicht geschmolzen. Das Mädchen war tot. Jetzt war der Vergewaltiger plötzlich zum Mörder geworden. Vielleicht war das überhaupt nicht seine Absicht gewesen. Sie dachte wieder an Esbens brutale und dennoch weiche Hände und daran, wie sie seine Berührungen genossen hatte. Was hatte Maja gefühlt? Es war ihr nicht gelungen, ein Interview mit ihr zu bekommen. Das Traumazentrum ließ die Presse nicht hinein und sie hatte nur einige von Majas Freundinnen erwischt, die auch nicht besonders viel über sie erzählen konnten. Sie waren alle zu betroffen von dem Vorfall, und nur eine einzige war sehr mitteilungsfreudig gewesen. Fast zu eifrig. Natürlich keine, die Maja sonderlich nahe stand, sodass Anne nicht wusste, wie viel sie auf das, was sie erfuhr, geben sollte, aber das war jedenfalls die Grundlage ihres gestrigen Artikels gewesen, in dem sie eine ganz gewöhnliche junge Frau beschrieben hatte, die studierte, in ihrer Freizeit Sport trieb und verrückt nach ihrem Freund war, der das Wochenende bei ihr verbracht hatte, am Sonntagabend aber zurück nach Kopenhagen gefahren war, wo er wohnte. Aber wie war der Vergewaltiger in die Wohnung gekommen, wenn sie im dritten Stock wohnte? War es nicht unglaubwürdig, dass sie ihn nicht selbst hineingelassen hatte? Was hatte Maja Andersen zu verbergen versucht? Benito hatte sie ebenfalls nicht erreichen können. Und dann war da auch noch diese andere merkwürdige Sache mit dem Grabschänder und der verschwundenen Leiche, über die er ebenfalls kein Wort verlor. Aber endlich! Endlich war etwas Spannendes passiert! Sie konnte es kaum erwarten, sich in die Recherche zu stürzen, es war so lange her, seit sie an einem Fall gearbeitet hatte. Wenn es doch bloß nicht so verflucht heiß wäre und ihr nicht alles wehtun würde. Sie ging einige Nachrichten durch. Ein weniger interessanter Diebstahl in einem Juweliergeschäft auf dem Ströget landete ganz unten im Stapel, und eine Frau in Lystrup wurde 100 Jahre alt, darum durfte Nicolaj sich kümmern. Sie schnappte sich den Kriminalstoff, er um alles andere. Das war die Absprache.
Nicolaj erreichte das Redaktionstelefon vor ihr, als es plötzlich die Stille mit einer lauten, pulsierenden Tonfolge durchbrach, die alle Nervenfasern zum Zittern bringen konnte. Sie hatte viel zu langsam reagiert. Gespannte Aufmerksamkeit schimmerte in Nicolajs grünen Augen, während er zuhörte, und er schaute sie die ganze Zeit an.
»Und du meinst also, es ist die gleiche Vorgehensweise?« Er nickte, setzte sich und notierte etwas auf seinem Schreibblock. Anne explodierte fast vor Neugier, es ging um etwas Großes, das konnte sie sehen. Nicolaj hatte diesen Gesichtsausdruck, den er bekam, wenn ihn etwas wirklich schockierte, was tatsächlich nicht oft vorkam. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab und versuchte zu lesen, was er notierte, konnte es aber nicht sehen. Endlich legte er auf.
»Neue Vergewaltigung letzte Nacht. Das Mädchen ist gestorben.«
Anne brachte keinen Ton heraus. Nicolaj reichte ihr einen Zettel mit einer Adresse, schnell hingekritzelt, sie konnte sie gerade so entziffern.
»Wenn du schnell bist, kannst du die Erste sein.«
Sie riss ihm den Zettel aus der Hand, schnappte sich ihre Kamera und wirbelte aus der Tür wie ein Orkan.
Die Hitze schlug ihr unten auf der Straße entgegen, wo die heiße Luft flirrte, wie sie es nur in einer stickigen Stadt kann. Der Geruch von Abgasen war sehr markant und ihre Übelkeit nahm zu. Sie hatte kein einziges Polizeiauto gesehen oder gehört und plötzlich fühlte es sich wie früher an, wenn sie vor ihnen da war. Wer wohl Nicolajs Kontakt war? Aber das war jetzt egal. Es war nicht so weit, sie würde ganz sicher zur gleichen Zeit wie die Polizei eintreffen. Jetzt würde Roland Benito nicht mehr umhinkommen, sich zu der Sache zu äußern.
9
Er hatte geglaubt, es würde schwer werden, aber das war es überhaupt nicht gewesen. Der Tote lag auf einer Bahre mit einem weißen Tuch bedeckt. Der Bestattungsassistent hatte es zur Seite gezogen, sodass sie die Daten auf dem kleinen Schild überprüfen konnten, das an dem leblosen, grauen großen Zeh des Mannes hing, der von einem gelblich-blauen, verhornten Zehnagel geschmückt wurde. Pia glich die Daten mit ihren Unterlagen ab. Sie stimmten überein. Dann überließ der Assistent ihnen die Arbeit. Das Einzige, was ihn gerade erschüttert hatte war, das Bein des Mannes zu berühren: Es fühlte sich an wie die kalten Schweinekörper an den Haken in der Schlachterei der Danish Crown, die er oft zum Spaß getätschelt hatte, während er mit einem der Schlachter gesprochen hatte. Der Mann hatte im Kühlraum des Krankenhauses gelegen. Aber er sah aus, als ob er bloß schliefe. Sie hatten ihn gewaschen und seine Haare frisiert, die dünn und ganz weiß waren. Sie hatten ihm die Kleidung angezogen, die seine Witwe ihnen in einem gebrauchten Pappkarton überreicht hatte, einen feinen Anzug – als ob er im Himmel zu einer Vorstandssitzung eingeladen wäre, hatte Pia geflüstert, obwohl nur sie drei und der Tote anwesend waren. Dann hatten sie ihn in den Sarg gelegt. Erling packte anstelle von Pia an, die Rückenprobleme hatte und nicht schwer heben durfte. Kjeldsen wog über 80 Kilo. Zusammen mit dem Sarg, der 50 Kilo wog, würde das Gesamtgewicht, das ins Grab heruntergelassen werden sollte, 130 Kilo betragen. Die Branchenvorschriften für Bestatter und Angestellte in Krematorien, die Andreas extra nachgelesen hatte, schrieben vor, dass Hebevorrichtungen als Hilfsmittel verwendet werden sollten. Doch Pia wollte, dass es manuell erledigt wurde. Alles andere empfand sie als würdelos, auch, wenn keine Angehörigen vor Ort waren. Andreas sah ein, dass alles immer noch im Sinne seines Vaters vonstattenging – oder besser gesagt seines Großvaters; damals gab es keine Hilfsmittel. Er war kurz davor, zu protestieren, schwieg jedoch. Trotz allem war er neu im Fach und so schlimm war es auch nicht, die Leiche in den Sarg zu heben. Erling war ein großer, starker Kerl und übernahm den Großteil des Gewichts. Pia bettete den Kopf des Toten auf dem Kissen, das die Gattin ebenfalls mitgebracht hatte, zugedeckt werden sollte er jedoch nicht. Die Arme wurden dicht an den Körper gelegt. So machte es noch stärker den Eindruck, als schliefe er nur. Niemand sollte den Verstorbenen sehen, daher hatte Erling den Sargdeckel sofort mit vier Schrauben befestigt. Obwohl es in dem Raum kühl gewesen war, war Andreas heiß geworden; der Schweiß hatte sich wie eine klebrige zweite Haut auf seine Stirn gelegt, und das Hemd klebte an seinem Rücken. Die Hitze war für die meisten Bestatter ein großes Problem, hatte Pia erklärt, während sie Kjeldsen ankleideten. Es gab einen Mangel an Kühlräumen für die Aufbewahrung der Toten, weil viele kleine Krankenhäuser im Umland im Laufe der Jahre geschlossen worden waren. Sie hatten Glück, in der Stadt Aarhus zu wohnen, die gute Kühlräume zur Verfügung stellte, sowohl auf dem Westfriedhof als auch hier in der Uni-Klinik. Die schlimmsten Toten, hatte Pia unterstrichen, waren die, die aus der Volkskirche ausgetreten waren. Viele ahnten nicht, was das bedeutete, außer, dass das Begräbnis teurer wurde, da die Kosten für das Ausheben und das Zuschütten des Grabes nicht mehr durch die Kirchensteuer abgedeckt war. Es war auch nicht länger die Rede von einer Kirchlichen Beerdigung oder Beisetzung, und oft musste der Bestatter die Rede selbst halten, die sonst der Priester hielt, wenn keiner der Angehörigen oder Freunde dies tun wollte. Andreas fragte sich beunruhigt, was er noch alles lernen sollte. Musste er jetzt auch noch Priester spielen?
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