»Mit denen, die wir angetroffen haben. Ein Paar war verreist, aber dann kommen sie ja sowieso nicht infrage«, schlussfolgerte Hafid logisch.
»Nein, nicht, wenn sie vor Sonntagnacht verreist sind. Dieses Paar habt ihr also nicht erreicht?«
»Ich jedenfalls nicht«, antwortete Hafid und schaute die anderen fragend an, aber niemand hatte etwas dazu zu sagen.
»Okay, um die kümmert ihr euch gleich. Und nun zu unserem anderen Fall mit der verschwundenen Leiche. Wie weit ist die Aufklärung da? Der Bürgermeister hat heute Morgen angerufen, er wartet auf meinen Rückruf. Was soll ich ihm sagen?«, seufzte Kurt Olsen resigniert und rieb sich seinen verschwitzten Nacken.
»Wir warten auf die Ergebnisse der DNA-Analyse der Haare, damit wir wissen, woher sie stammen«, entgegnete Roland.
»Ja, aber, zum Teufel, von wem können die denn sonst stammen als von der Leiche?«
»Sie stammen nicht von einem Menschen, meinen die Techniker.«
Aber Roland war es auch leid, auf Antwort zu warten. Er sah die langwierige Analysearbeit vor allem als Zeitverschwendung, aber so war nun einmal das Procedere. Die Analyse des Bluts aus Maja Andersens Schlafzimmer lag auch noch nicht vor. Aber konnte es von jemandem anders als ihr stammen? Beweise waren das einzige, was sie herbeischaffen sollten. Dokumentierte Beweise, andernfalls würde jeder Verteidiger sie vor Gericht auseinandernehmen. Vielleicht hatten sie auch Glück, und das Blut gehörte zu Majas Täter, also hieß es, geduldig abzuwarten.
»Hat die Familie ihn nicht im Sarg liegen gesehen? Aufbahrung in der Kapelle ist doch recht üblich geworden«, schnarrte Kurt Olsen weiter.
Roland schüttelte den Kopf. »Die Familie hatte sich entschieden, auf den Bestatter zu hören, der davon abgeraten hat. Er muss nach dem Unfall keinen besonders schönen Anblick geboten haben. Besonders sein Gesicht war ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Sie konnten ihn nicht ordentlich schminken, daher …«
Alle saßen schweigend da und starrten auf einen unsichtbaren Punkt in der Mitte über dem Tisch.
»Wie kommen wir weiter?«, fragte Kim schließlich und richtete die Brille, die den verschwitzten Nasenrücken herunterrutschte. Noch ein heißer Morgen hatte die Temperaturen weiter hochgeschraubt, und im Laufe des Tages würde es fast unmöglich sein, sich in den Räumen aufzuhalten. Mit offenen Fenstern hatten sie den Lärm der Hafenbaustelle zu erdulden, aber das mussten sie dann in Kauf nehmen. Roland hatte ebenfalls Schweiß auf der Stirn und spürte nasse Flecken unter den Armen seines kurzärmeligen Hemds. Hilflos schaute er zu Kurt Olsen, denn ihm fiel einfach keine Antwort ein, doch da rettete ihn ein Klopfen an der Tür. Der Diensthabende kam herein.
»Entschuldigt die Störung, aber ich bin davon ausgegangen, dass das hier nicht warten kann. Gerade ist ein neues Opfer gefunden worden. Ebenfalls eine junge Frau. Vergewaltigt. Anscheinend die gleiche Vorgehensweise. Sie ist gestorben. Wurde erwürgt und verprügelt, vielleicht nicht gerade in dieser Reihenfolge.«
Kurt Olsen schaute anklagend zu Roland. »Das hier war doch verdammt nochmal nicht in der Presse, sodass andere auf dumme Ideen gebracht worden sind?«
Roland hielt abwehrend beide Hände in die Luft.
»Aus unserer Abteilung ist nichts durchgesickert, das kann ich dir versprechen, aber mit diesen Journalisten weiß man ja nie. Die haben sich natürlich auf Majas Freunde gestürzt, die vielleicht sogar Schlange gestanden haben, um in die Zeitung zu kommen.«
Kim murmelte irgendetwas und drehte sein iPad, das er immer mit sich herumschleppte, sodass der Bildschirm zu Roland zeigte. Er konnte wegen des reflektierenden Lichts nichts erkennen. Kurt kniff ebenfalls die Augen zusammen.
»Nachrichten-Online«, erklärte Kim und hob die dunklen Augenbrauen, was ihn wie eine ältere Ausgabe von Harry Potter aussehen ließ. Er las die Überschrift vor. »Das hier wurde gestern hochgeladen: Außergewöhnlich schwere Vergewaltigung! Schlafende Frau mit unbekanntem, scharfem Gegenstand in ihrer eigenen Wohnung vergewaltigt. Hier wird genau beschrieben, wie der aussehen könnte. Das, was du gerade gesagt hast, Roland«, Kim schaute ihn für einen kurzen Augenblick schockiert an, bevor er fortfuhr. »Und das hier wurde heute frühmorgens hochgeladen: Vergewaltigungsopfer tot! Mörder immer noch auf freiem Fuß! Wo ist die Polizei? Man hört nichts von ihr!«
»Wie zum Teufel haben die das erfahren?«, zischte Kurt. »Wir müssen diese Pressekonferenz einberufen, obwohl wir noch nicht darauf vorbereitet sind, sonst gerät das Ganze völlig aus der Spur. Na, seid ihr bereit, wieder auszurücken?«
8
Anne schwitzte, obwohl es erst halb sieben morgens war, und spritze sich in dem winzigen Gäste-WC, das zu den neuen Räumlichkeiten gehörte, kaltes Wasser ins Gesicht. Es war auf Dauer unzumutbar geworden, die Redaktion in Nicolajs Wohnung am Marselis Boulevard zu haben, also hatte er einige freie Räume in einem Haus in der Frederiks Allee angemietet. Näher an allem dran. So viel sie wusste, waren sie früher als Lager für ein Schuhgeschäft – oder war es ein Taschengeschäft? – benutzt worden. Jedenfalls hatte sich der Übelkeit erregende Ledergeruch in den Räumen festgesetzt, und es war viel instand zu setzen gewesen. Nicolaj hatte sich um das Ganze gekümmert. Oder besser gesagt, für das Ganze bezahlt. Er hatte einen ihr unbekannten Betrag von seinem Vater geerbt, der vor einem halben Jahr gestorben war, und sie hatte nicht gegen seinen plötzlichen Entschluss protestiert, in andere Räumlichkeiten zu ziehen. Jetzt hatte sie es nicht mehr weit zur Arbeit, es waren nur ein paar Minuten zu Fuß. Es war eine ganz gemütliche kleine Redaktion geworden mit einem Extraraum für Besprechungen. Das Bad war jedoch nicht renoviert worden und sah nicht besonders einladend aus. Tropfende Wasserhähne, die im Laufe der Zeit rostfarbene Streifen in dem Porzellanwaschbecken hinterlassen hatten, und dicke bräunliche Kalkränder in der Kloschüssel, ganz zu schweigen von dem Gestank aus dem Abfluss, der bei Regen besonders schlimm war. Aber wie Nicolaj sagte, sollten sie sich ja auch nicht überwiegend dort aufhalten, Schreibtische für die Computer und Sitzgelegenheiten würden reichen. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem fleckigen Spiegel. Sauberer hatte sie ihn nicht bekommen. Die Zeit als Reinigungsassistentin hatte sie doch ein kleines bisschen geprägt; sie konnte keinen Schmutz mehr sehen, ohne den Drang zu verspüren, sauberzumachen. Das machte sich so gesehen auch in ihrem Beruf als Journalistin bezahlt. Ihr Gesicht sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Sie hatte letzte Nacht nicht viel geschlafen. Esben war zu Besuch gekommen und das bedeutete immer schlaflose Nächte. Ihr tat alles weh und sie hielt ihre Handgelenke unter kaltes Wasser. Zum Glück waren die Spuren nicht so deutlich, sodass Nicolaj sie hoffentlich nicht bemerkte. Esben schnürte die Fesseln nicht besonders fest, es reichte, dass sie da waren, um ihm das Gefühl zu geben, Macht über sie zu haben. Sie sollte die Unterwerfung spüren. Sie schauderte, aber nicht aus Unbehagen. Die Scham war deutlich als eine intensive Röte in ihrem Gesicht zu sehen. Heute, am Tag darauf, konnte sie sich aus einer gewissen Distanz betrachten; das, was sie sah, gefiel ihr nicht. War das wirklich sie? Diese andere Seite von ihr, die niemand anders kannte. Ihr gemeinsames kleines Geheimnis. Er hatte versucht sie zu überreden, mit in den SM-Club zu kommen, aber da zog sie dann doch eine Grenze. Sie wusste, dass er selbst ab und zu dort Gast war, aber das machte ihr nichts aus. Sie war nicht einmal eifersüchtig. Vielleicht war sie bloß mittlerweile abgestumpft. Vielleicht war ihr die Fähigkeit, Liebe zu empfinden, zusammen mit Adomas abhandengekommen. Sie nahm ein frisch gewaschenes Handtuch von dem halbverrosteten Haken und trocknete sich das Gesicht ab. Schaute wieder in den Spiegel. War sie außerstande, etwas zu fühlen? Traute sie sich nicht, aus Angst vor einem erneuten Verlust? Genoss sie Esbens harte Behandlung, weil sie es verdiente, bestraft zu werden? Das mit Adomas war ihre Schuld gewesen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Vielleicht könnte ein Psychologe all die törichten Fragen beantworten, aber sie wollte mit so einem Experten, der in der menschlichen Psyche herumwühlte, nichts zu tun haben. Es gab zu viel Mist auszugraben. Nein, sie empfand bloß nichts für Esben. Jedenfalls keine Liebe, so war das einfach. Es war nur Sex. Nicht mehr. Harter und brutaler Sex, wie sie es offenbar wollte.
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